Streifzug durch die Oasen


Neuer Band zum 65. Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil

„Oasen sind Räume oder Schutzzonen, die ich während eines Jahres oft mehrmals aufsuche. Mit ihnen verbinde ich lange zurückliegende Erlebnisse, an die ich mich gern erinnere“, heißt es beinahe bei­nahe programmatisch im neuem Band „Was ich liebe und was nicht.“ Hanns-Josef Ortheil lädt den Leser geradezu ein, an sei­nem Leben teilzuneh­men, ihn in privates­te Bereiche zu beglei­ten, an Vorlieben und Abneigungen zu par­tizipieren.

Seine große Affinität zur Musik und seine Reiseleidenschaft nehmen einen großen Teil des Ban­des ein, dessen Ton­fall zwischen lockerer Plauderei und ambi­tioniertem Essay changiert. Kinobesuche, Streifzüge durch Museen und Galerien werden intelligent unter die Lupe genommen. Ortheil er­öffnet dem Leser allerdings auch manch unbekannte Facette aus sei­nem Leben – so z.B. seine Liebe zur Fotografie. „Das Fotografieren begann, weil ich nicht zeichnen konnte“, berichtet er über seine Anfänge. Heute drücken Fotos für ihn den Wunsch nach Nähe aus, das Verlangen, etwas nah an sich heran holen zu wollen. „Fotografie­ren ist eine libidinöse Eroberung der Zeit. Filmen und alte Filme an­schauen ist eine Begegnung mit dem eigenen, bald für möglich gehal­tenen Sterben.“
Ortheil philosophiert über die Kunst des Briefeschreibens, erklärt uns seine Abneigung gegen das Telefonieren und lässt uns wissen, dass Mails das ideale Kommunikationsmedium sind, um den Alltag zu orga­nisieren. Es gibt in diesem schonungslos offenen Band allerdings auch allerlei Belanglosigkeiten. Wir erfahren, dass Ortheil bei Restaurantbe­suchen weder Aperitif noch Mineralwasserflaschen goutiert und be­gleiten ihn beim Fliegenkauf in einem Amsterdamer Textilgeschäft. Ja, das liest sich an mancher Stelle etwas selbstverliebt, aber es ist (wie fast immer bei diesem Autor) wunderbar formuliert.
Aus der Generation der Nachkriegsgeborenen zählt Ortheil fraglos zu den versiertesten, vielseitigsten und produktivsten Autoren. Mit seiner sprachgewaltigen, im 18. Jahrhundert angesiedelten Künstler-Roman­trilogie (1998-2000 erschienen) hat der gebürtige Kölner Kritik und Leser gleichermaßen fasziniert. Vieles aus den jüngeren Büchern ent­stammt Ortheils eigener Vita: das introvertierte Kind, das verstummte und erst im Alter von sieben Jahren richtig zu sprechen begann, das dann ein großes musikalisches Talent offenbarte, aber wegen chroni­scher Sehnenscheidenbeschwerden die angestrebte Pianistenkarriere aufgeben musste. "In der Einsamkeit des Westerwaldes habe ich auf dem elterlichen Bauernhof meines Vaters das Sprechen gelernt", er­klärte Ortheil einmal in einem Interview. Seine Mutter, die in der Nachkriegszeit vier Kinder verloren hatte, war irgendwann verstummt. Und mit drei Jahren stellte auch Ortheil das Sprechen ein. In der Figur des Johannes Catt aus "Die Erfindung des Lebens" (2009) spiegeln sich die überaus wechselvollen Kinder- und Jugendjahre des Autors, der überdies seit 2003 als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim tätig ist.
"Ich war geradezu besessen davon, in unserer hyperkommunikativen Zeit einen Roman über das Schweigen und die Stille zu schreiben", berichtet Ortheil über seine Motive für den 2011 erschienenen Roman "Liebesnähe". Ein Buch, das so ganz und gar nicht in unsere schnellle­bige Zeit passte und das zudem eine völlig neue Dimension des zeit­genössischen Liebesromans eröffnete. Man meint, dieser Roman sei nicht geschrieben, sondern komponiert - mit einer ganz sanften, fast stillen Tonfolge.
Mit "Liebesnähe" hat Hanns-Josef Ortheil, der am 5. November seinen 65. Geburtstag feiert, nach "Die große Liebe" (2003), und "Das Verlangen nach Liebe" (2007) seine große Liebesroman-Trilogie abgeschlossen und ein flammendes Plädoyer für die Erotik der Stille vorgelegt. Der schönste, fantasievollste und emotionalste Liebesroman der letzten zehn Jahre.
In den stark autobiografischen Bänden „Moselreise“ (2010) und „Berlinreise“ (2014) hat Ortheil seine Kindheitserinnerungen und seine Reiseleidenschaft auf anspruchsvolle, aber auch unterhaltsame Weise vereint. Über Oasen und Schutzzonen, über private Rückzugsgebiete hat Ortheil sehr häufig geschrieben. Immer dann mit besonderer Intensität, wenn er seine eigene Vita im Blick hatte.

Hanns-Josef Ortheil: Was ich liebe und was nicht. Luchterhand Verlag, München 2016, 363 Seiten, 23 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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