Annika Büsings Romandebüt „Nordstadt“
Stärker als das Schicksal

„Ich liebe dich, sage ich.“ Der erste Satz im Romanerstling von Annika Büsing kann leicht in die Irre führen. Hier geht es überhaupt nicht um Schmetterlinge im Bauch, um romantische Süßholzraspelei oder eine abenteuerliche Romanze. Im Debüt der in Bochum lebenden Gymnasiallehrerin für Deutsch und Religion stehen zwei Figuren im Mittelpunkt, denen das Schicksal ganz übel mitgespielt hat.

„Sie ist stärker als dieses Schicksal“, hat die Autorin kürzlich im NDR-Kulturjournal über ihre Protagonistin Nene erklärt. „Nordstadt“ steht hier für mehr als eine Himmelsrichtung. Im Ruhrgebiet sind (Dortmund, Essen, Bochum) die nördlichen Stadtteile häufig soziale Brennpunkte, im Süden (zumeist südlich der A40) lässt es sich besser leben. Im hier dargestellten Norden zeigt sich der Alltag von seiner ganz dunklen Seite. Und genau diese Sphären leuchtet Annika Büsing aus: Armut, Alkohol, niedriges Bildungsniveau, Kindesmisshandlung, Gewaltexzesse und Ausgrenzung von sozialen Minderheiten (hier vor allem: Behinderte) bilden die Expfeiler im Leben der aus der Nordstadt stammenden Nene und Boris.
Nene entwickelt im Laufe der Jahre ein besonderes Verhältnis zum Schwimmbad der „Nordstadt“, hat mit fünf Jahren schon schwimmen gelernt, verlor im Alter von acht Jahren ihre Mutter und wurde später von ihrem, dem Alkohol verfallenen Vater immer wieder misshandelt. Es folgten Heimaufenthalte und kurze Intermezzi bei ihrer 13 Jahre älteren Halbschwester Alma, die als erfolgreiche Goldschmiedin den „Aufstieg“ geschafft hat und im Süden der Stadt lebt. Nene ist siebzehn, als sie auf einem Spielplatz vergewaltigt wird. Nur ihrer Freundin Genet vertraut sie sich an, eine Mischung aus Scham und Schmerz macht sich in ihr breit.
„Willst du nichts machen?“, und ich sagte: „Doch. Ich will es vergessen.“ All die Schicksalsschläge, die sie einstecken musste, haben in der Ich-Erzählerin offensichtlich eine Art „Jetzt-erst-recht-Mentalität“ geweckt. Das eher schmuddelige, veraltete Schwimmbad in ihrem Stadtteil wird prägend. Hier hat sie als Schülerin gejobbt, später ihre Ausbildung als Fachangestellte für den Bäderbetrieb abgeschlossen und einen Arbeitsplatz gefunden. Für Nene ein Wohlfühlort, aber kein Vorzeige-Spaßbad, das dem heutigen Zeitgeist entspricht. Hier geht es ums Bahnen ziehen, den Körper stählen und nicht um den Fun-Faktor. Fitness statt Wellness ist in der Nordstadt angesagt.
Im Bad begegnet sie dem gleichaltrigen Boris, der als Zweijähriger an Kinderlähmung erkrankt (seine Mutter hatte bewusst die Impfung verweigert!) und seitdem gehbehindert ist. Er fragt Nene nach einem Schwimmbrett und bewegt sich entsprechend unrhythmisch durchs Wasser. Verspottet, arbeitslos und ohne jede Zukunftsperspektive: Boris' Lebensweg scheint ähnlich düster gewesen zu sein. Nene arbeitet ihm ein speziell auf seine Bedürfnisse ausgelegtes Trainingsprogramm aus, und die beiden freunden sich an.
Sie gehen gemeinsam ins Kino, aber mehr als schüchternes Händchenhalten will den beiden Mittzwanzigern nicht gelingen. Die Sehnsucht nach Nähe und die Angst, den anderen/die andere zu enttäuschen, stehen sich unüberwindbar gegenüber. Zwei junge Menschen wollen ihre (ziemlich grob strukturierte) Gefühlswelt neu sortieren, können sich aber trotz vorhandener Zuneigung dabei nicht gegenseitig helfen. Boris, der „Mann mit den Puma-Augen“ (wie Nene ihn nennt), verstrickt sich in Lügen, täuscht Jobs vor und bekennt: „Ich habe dich nicht abgeschrieben. Ich hab mich abgeschrieben.“
Wie nicht anders zu erwarten, gibt es bei Annika Büsings Roman kein Happy-End. Im Gegenteil: Auf der Beerdigung von Nenes Vater droht Boris: „Wenn du mit wem anders rummachst, stecke ich die Stadt in Brand.“
Auf nicht einmal 130 Seiten durchleben wir (fragmentarisch) die Lebensläufe von zwei stark traumatisierten Figuren – eine Atmosphäre der totalen Kälte, der völligen Schutzlosigkeit der Schwachen. Für Nene und Boris scheint Glück ein Fremdwort zu sein.
Der Erzählton in „Nordstadt“ klingt nach Atemlosigkeit, nach dauerhaft erhöhtem Pulsschlag. Alles wirkt gehetzt und getrieben, wie eine Dauerflucht vor allem und jedem. Annika Büsings bisweilen derber Humor lässt unser Lachen schon in der Kehle gefrieren ist. Kein Buch für zartbesaitete Gemüter, aber ein mehr als verheißungsvolles Debüt mit glasklarem, beinahe sezierenden Blick auf den Rand unserer Wohlstandsgesellschaft.
Nenes Liebe zum Schwimmen darf man am Ende durchaus metaphorisch interpretieren, als einen permanenten Versuch des Sich-Über-Wasser-Haltens im sozialen Schmelztiegel der „Nordstadt“.

Annika Büsing: Nordstadt. Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2022, 123 Seiten, 20 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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