Javier Cercas' Roman „Die Erpressung“
Schreiben, um zu verstehen

Auf den ersten Blick kommt der neue Roman des 60-jährigen Spaniers Javier Cercas wie ein Kriminalroman daher. Je tiefer man allerdings in die Handlung eindringt, öffnen sich brisante hochpolitische Türen.

Seit sein 2009 erschienener Roman „Anatomie eines Augenblicks“ von der wichtigsten spanischen Tageszeitung „El Pais“ zum Buch des Jahres gekürt worden war, hat Javier Cercas auch außerhalb Spaniens große Beachtung gefunden. Acht Jahre zuvor hatte der im katalanischen Girona lebende Autor schon mit „Soldaten von Salamis“ eine Art Tabubruch begangen, in dem er als bekennender Linker künstlerisch den Versuch unternommen hatte, sich in einen politischen Führer der Falange hineinzuversetzen.
"Der Grund für diese neuen Themen ist wohl, dass ich mich selbst verändert habe", erklärte Javier Cercas kürzlich in einem Radiointerview in Anspielung auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Autonomiebestrebungen in Katalonien vor fünf Jahren. Cercas, in der Extremadura geboren, ist einer der entschiedensten Gegner der katalanischen Separatistenbewegung. „Das Ergebnis dieser Veränderungen ist dieses Buch“, hatte Cercas in einem Interview mit dem saarländischen Rundfunk bekannt.
Wie schon in dem vor einem Jahr erschienenen Vorgängerwerk „Terra Alta“ steht der kauzige Ermittler Melchor Marin im Mittelpunkt der Handlung. Der Gerechtigkeitsfanatiker mit der überaus schwierigen Kindheit (seine Mutter war Prostituierte und als Jugendlicher war er selbst straffällig geworden) hat sich aus dem urbanen Moloch Barcelona nach Terra Alta zurückgezogen – eine beschauliche Gegend im äußersten Süden Kataloniens. Er will sich dort seiner Tochter und seinem Faible für anspruchsvolle Literatur (bevorzugt Victor Hugos „Die Elenden“) widmen.
„Katalonien steht seit eh und je unter der Fuchtel von einer Handvoll Familien, das war die ständige Rede meines Vaters. Die hatten vor Franco das Sagen, während Franco und nach Franco und werden noch das Sagen haben, wenn wir beide tot und begraben sind. Das Geld hat etwas Magisches, ist unsterblich, übernatürlich“, lässt uns Protagonist Marin wissen.
In seiner Wahrnehmung ist Barcelona ein einziger Sumpf aus Korruption, Intrigen und Machtkämpfen hinter den politischen Kulissen. Irgendwann ist es mit der Ruhe in Terra Alta zu Ende. Er erhält einen Hilferuf aus Barcelona, soll die Erpressung der Bürgermeisterin von Barcelona aufklären. Sie wird mit einem brisanten Sex-Video unter Druck gesetzt.
Melchor findet heraus, dass auf dem Video auch drei Söhne extrem wohlhabender und einflussreicher Familien zu sehen sind. Diese Clique arbeitet mit KO-Tropfen und setzt ihre Sex-Inszenierungen auch als Machtinstrument ein. Ein widerwärtiges „Spiel“, vor dem auch die Bürgermeisterin zu resignieren scheint. „Normalität gibt es nicht“, stöhnt sie flehend.
Die Erpressung der Bürgermeisterin dient Autor Javier Cercas nur als (durchaus spannend inszenierte) Rahmenhandlung einer brachialen Abrechnung mit den politischen Verhältnissen in seiner Heimatregion.
Hauptfigur Melchor wird von Rachegelüsten getrieben, Autor Cercas lässt ihn mit seinem eigenen Furor gegen selbstgefällige und korrupte Politiker vorgehen. Dabei werden moralische Grenzbereiche tangiert, wenn es z.B. um die Frage der Selbstjustiz geht.
„Es gibt viele Dinge, die mich zum Schreiben inspirieren, vor allem die Dinge, die ich nicht verstehe. Ich schreibe, um zu verstehen. Natürlich scheitere ich immer. So wie ich es verstehe, ist Literatur der gescheiterte Versuch zu verstehen“, hat Javier Cercas kürzlich sein eigenes dichterisches Credo definiert.
„Die Erpressung“ bietet eine nicht immer ganz homogene Mischung aus Krimi, Entwicklungsroman, streitbaren essayistischen Einschüben und jede Menge spanischer Zeitgeschichte. Keine leichte Kost, eher schwer verdaulich, aber dennoch überaus spannend zu lesen.

Javier Cercas: Die Erpressung. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022, 429 Seiten, 25 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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