Zum Tod der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer
Schreiben mit dem Weitwinkel

„Eigentlich ist man als Schriftsteller immer froh, wenn sich Wahrnehmungen verändern. Man darf sich bloß nicht in einen blöden Sog bringen lassen“, hatte Brigitte Kronauer im letzten Jahr in einem FAZ-Interview auf die Frage nach möglichen Problemen mit dem Älterwerden erklärt.

Von einer völlig neuen künstlerisch-stilistischen Leichtigkeit war ihr 2013 erschienenes Opus „Gewäsch und Gewimmel“ geprägt, das uns eine bis dahin gänzlich unbekannte Facette der Autorin offenbarte, denn so humorvoll und unangestrengt wie in diesem Roman waren wir Brigitte Kronauer zuvor noch nie begegnet. Und auch in ihrem letzte Roman „Der Scheik von Aachen“ (2016) hielt die gebürtige Essenerin an diesem Stil fest. Mit beeindruckender Beobachtungsgabe und großer sprachlicher Präzision fand Brigitte Kronauer eine singuläre Balance zwischen Tragik und Komik.
Als im Sommer 2005 bekannt wurde, dass sie den Georg-Büchner-Preis erhalten sollte, gehörte ihr Vorgänger Wilhelm Genazino zu den ersten Gratulanten. Kein Zufall, denn beider Werk weist viele Parallelen auf. Kronauer und Genazino schrieben viele Jahre auf hohem Niveau, wurden von der Kritik stets wohlwollend begleitet, ohne jedoch ein breites Lesepublikum gefunden zu haben.
Brigitte Kronauer, die am 29. Dezember 1940 in Essen geboren wurde, war eine Meisterin der Beschreibung. Jede vordergründig nebensächliche Veränderung in den Figurenkonstellationen, jede winzige Regung in der Natur wurde registriert: sie arbeitete mit einem literarischen Weitwinkel - ganz nah heran ans Geschehen und mit viel Tiefenschärfe ein breites Spektrum ablichten.
Kronauer, die seit vielen Jahren in Hamburg lebte und dieser Stadt und ihrem Umfeld im Roman „Teufelsbrück“ (2000) ein eindrucksvolles literarisches Denkmal setzte, hat in den frühen 1970er Jahren den Lehrerberuf an den Nagel gehängt und sich ganz der Literatur zugewandt. Ein Wagnis, das sich erst ein Jahrzehnt später auszahlte. Drei schmale Bände mit Prosa und Aufsätzen waren bereits in Kleinverlagen erschienen, als der Verlag Klett-Cotta 1980 ihren ersten Roman „Frau Mühlenbeck im Gehäus“ heraus brachte. „Wie ist es möglich, solche Sätze zu machen und jahrelang den Suchstrahlen der Literatur-Akquisition zu entgehen“, fragte damals die drei Jahre ältere Schriftstellerkollegin Hannelies Taschau in einer Rezension.
Der Durchbruch gelang Brigitte Kronauer dennoch erst 1986 mit dem Roman „Berittener Bogenschütze“, in dem sie einen Literaturwissenschaftler an einem Aufsatz mit dem Titel „Die Leere, Stille, Einöde im innersten Zimmer der Leidenschaft“ schreiben lässt. Der Protagonist Matthias Roth (wie Kronauer selbst leidenschaftlicher Joseph Conrad-Fan), der eine schwere intellektuelle Lebenskrise durchmacht, wirkt wie ein männliches Erzähl-Ego seiner Schöpferin. Drei Jahre später erfolgte die erste bedeutende öffentliche Auszeichnung, als ihr der Heinrich-Böll-Preis verliehen wurde. Danach erhielt Brigitte Kronauer zudem noch den Mörike-Preis, den Bremer Literaturpreis und 2005 den Georg-Büchner-Preis.
Seit 1990 („Frau in den Kissen“) hat Brigitte Kronauer fast jährlich ein neues Buch publiziert: Romane, Prosa und immer wieder auch höchst intelligente Aufsätze und Essays. Eines ihrer gelungensten Werke war der schmale Prosaband „Schnurrer“ (1992), der Momentaufnahmen von fotografischer Genauigkeit aus dem Leben der leicht kauzigen Hauptfigur Karl-Rüdiger Schnurrer lieferte.
Dieser introvertierte Schnurrer könnte mit all seiner Apathie indes auch ein Bruder von Willi Wings sein, der Hauptfigur aus Kronauers Roman „Das Taschentuch“ (1994). Beide zeichnen sich dadurch aus, nicht aktiv am Leben teilzunehmen, sondern es zu beobachten.
Brigitte Kronauer war eine der gebildetsten, sprachmächtigsten und fantasievollsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen, sie war die Feinmechanikerin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Am Montag ist sie im Alter von 78 Jahren in Hamburg gestorben. In vier Wochen kommt ihr Roman „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ auf den Markt. Wir müssen ihn nun leider als künstlerisches Vermächtnis lesen.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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