Fernando Aramburus neuer verspielter Roman
Sammler von Glücksmomenten
Das ist alles andere als ein vielversprechender Romaneinstieg, wenn man zu Beginn liest: „Noch auf Höhe des Jadebusens hatte Clara einen ihrer Anfälle von Morgendepression bekommen. Morgens praktiziert Clara Niedergeschlagenheit, wie andere eine Joggingrunde.“ Diese etwas zäh und wenig erfreulich startende Reise eines Ehepaares, das Norddeutschland erkunden will, um Eindrücke für ein Buchprojekt zu sammeln, wird mit zunehmender Dauer unterhaltsamer und der Roman immer vielschichtiger.
Fernando Aramburu, der seit mehr als 35 Jahren in der Nähe von Hannover lebt und mit einer deutschen Frau verheiratet ist, gilt als der bedeutendste zeitgenössische baskische Autor. Sein Bestseller-Roman „Patria“, der um das ureigene baskische Lebensgefühl kreist, wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die „Reise mit Clara durch Deutschland“ spielt im Jahrhundertsommer des Jahres 2003 und ist im Original bereits vor elf Jahren erschienen. Ein Ehepaar in den mittleren Jahren bricht in Wilhelmshaven zur besagten Reise auf. Die leicht „überdrehte“ Clara ist im Hauptberuf Lehrerin, hat sich aber in ihrem Nebenjob als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Ein Verlag gewährt ihr einen ansehnlichen Vorschuss für ein Reisebuch.
So startet sie mit ihrem Mann, der ihr zunächst lediglich als Chauffeur und Fotograf (wie in einer Handlangerrolle) zur Seite steht, zu einem chaotischen Tripp, der nach gut bildungsbürgerlichem Gusto mit einigen Heine-Versen eingerahmt wird.
Ihren Hund namens „Goethe“ gibt das Paar bei einer Nachbarin in Obhut. Spätestens beim ersten Zwischenstopp bei Claras Tante Hildegard, wo der handwerklich nur leidlich begabte männliche Protagonist ein verstopftes Waschbecken reparieren soll, stürzt die Handlung in die Untiefen der Alltagskomik. „Ich blieb mit dem verstopften Abfluss allein und fühlte mich wie ein Rekrut, der mit dem Entschärfen einer Mine betraut worden ist.“
„Maus“ oder „Mäuschen“, wie Clara ihren Mann zu nennen pflegte, muss fortan einiges mitmachen: den Besuch bei Claras alleinerziehender Schwester, die in ihrer Rolle hoffnungslos überfordert ist, eine Visite im Bargfelder Arno-Schmidt-Haus, einen Abstecher auf die Reeperbahn, einen von einem heftigen Gewitter begleiteten Besuch am Grab von Paula Modersohn-Becker, Abstecher nach Bremen, Göttingen, Berlin, Lübeck, Hamburg und auf die Insel Rügen.
Mehr als doppelbödig
Das alles hat der 63-jährige Fernando Aramburu in einem äußerst launigen Ton verfasst, der präzise zu den geschilderten Anekdoten passt. Aber es ist Vorsicht geboten, um diesem raffinierten Autor nicht auf den Leim zu gehen. Aramburu spielt mit der Komik, mit den Banalitäten und mit dem alltäglichen Unsinn. Dieses Buch ist mehr als nur doppelbödig. Aramburu arrangiert hier einen perfekten Rollentausch, führt uns eine kapriziöse Frau als Schriftstellerin vor und drapiert daneben sein Erzähl-Ich als zunächst sanften, manchmal fast gleichmütigen Begleiter. Bei dieser Aneinanderreihung von Alltagspetitessen wird mit der erzählerischen Leichtigkeit kokettiert.
Aramburu lässt uns auf der nicht störungsfreien Tour durch den deutschen Nord mit seiner Erzählung an der Entstehung eines literarischen Textes teilhaben. Was Clara, nicht selten mit hämischem Unterton „Frau Schriftstellerin“ genannt, zu Papier bringt, bleibt offen. Dafür erleben wir hautnah ihre Qualen beim Schreibprozess mit, das oft erfolglose Ringen nach Worten, die wiederkehrenden Versuche, ihre gewonnenen Eindrücke zu strukturieren.
Stattdessen erfahren wir am Ende, dass der zurück haltende, wenig ambitionierte männliche Protagonist („wenngleich ich nicht schreibe, um gelesen zu werden.“) mehr oder weniger heimlich Notizen verfasst hat, aus denen später ein Buch entsteht.
Ein Schelmenstreich eines Autors, der mit allen literarischen Wassern gewaschen ist. En passant hat uns der Blick eines Basken auf die Banalitäten des deutschen Alltags hier und da auch noch einen völlig neuen Blickwinkel eröffnet. Aramburu selbst hat seine männliche Hauptfigur, den heimlichen Schriftsteller, treffend charakterisiert: „Der Protagonist ist ein Sammler von Glücksmomenten. Deswegen kann er auch die Reise genießen.“ Wer am Anfang des Buches etwas Geduld aufbringt, der wird später als Leser auch jede Menge Glücksmomente bei der Lektüre erleben können.
Fernando Aramburu: Reise mit Clara durch Deutschland. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 591 Seiten, 25 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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