Zum Tod des Büchner-Preisträgers Jürgen Becker
Prosa als fehlender Rest

„Vielleicht ein Versuch, die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich“, hieß es im Band „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022)  aus der Feder des viele Jahrzehnte unterschätzten Schriftstellers Jürgen Becker.

Als „eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie“ wurde Becker 2014 völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde.
„Ob das einundderselbe Autor ist, mag sich der Leser fragen, der in diesem Buch zu blättern beginnt und gleich auf so unterschiedliche Textformen und Schreibweisen stößt“, schrieb Becker im Nachwort seines 2012 erschienenen Prosa-Sammelbandes „Wie es weiter ging,“ der Texte aus mehr als vierzigjähriger schriftstellerischer Tätigkeit vereint und in dem die gesamte Bandbreite und der immense Facettenreichtum seines Werkes abgebildet wird.
Nur Mitteilungen aus seinem Erfahrungsbereich, schrieb er einst an den Kollegen Hans-Magnus Enzensberger, seien in seinem Prosaband „Felder“ (1964) enthalten. An dieser dichterischen Maxime Beckers, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 war, hat sich bis zuletzt nichts geändert. Neben Verlagstätigkeiten bei Rowohlt und Suhrkamp und als Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk hat der gebürtige Kölner sich vor allem als Lyriker und Hörspielautor einen Namen gemacht.
„Ich wäre gern Maler geworden, hätte ich nur die Begabung gehabt“, erklärte Becker einst in einem Interview. Die Malerei ist dem Autor dennoch sehr nahe, denn mehr als fünfzig Jahre war Jürgen Becker mit der renommierten Künstlerin Rango Bohne verheiratet, die 2021 verstorben ist.
In den letzten Jahren gab es noch einmal eine künstlerische Zäsur in Beckers Werk. Über Jahrzehnte hatte er die Lyrik und das Hörspiel favorisiert und offensichtlich sein erzählerisches Talent verkannt. 1997 erschien der glänzende Prosaband „Der fehlende Rest“. Die schmale Erzählung las sich wie ein Werkstattbericht aus dem Hinterkopf eines hochsensiblen Lyrikers, der uns Einblicke darüber gewährt, wie ein Gedanke den Weg aufs Papier findet. Und der Titel könnte aus zwei Gründen durchaus programmatischen Charakter haben – als sinnstiftende Ergänzung zu Jürgen Beckers Lyrik oder aber als spät entdeckte Liebe zur Prosa.
1999 bewies Becker mit seinem ersten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ endgültig, dass er auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung entstand ein aus vielen Episoden zusammengefügtes Panorama der Disharmonien im Nachwendedeutschland. Darin heißt es: „In vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen.“ 
Heute wissen wir: „Der fehlende Rest“ – bezogen auf Jürgen Beckers umfangreiches Oeuvre – waren die späten Romane, diese sprachlich hochsensiblen Reflexionen eines Autors, der stets seine eigene Erfahrungswelt zum literarischen Sujet gemacht hat. Nun ist Jürgen Becker, der feinsinnige Gratwanderer zwischen Lyrik und Prosa, im Alter von 92 Jahren in Köln gestorben.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.