Neuer Band von Saša Stanišić
Proberaum des Lebens
Kürzlich ist Angela Krauß' Band mit dem ellenlangen Titel „Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen“ erschienen, doch nun hat der 1978 in der bosnischen Kleinstadt Višegrad geborene Saša Stanišićs mit „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ die Länge des Buchtitels noch einmal getoppt. Beide Bücher passen in keine Genre-Schublade, haben etwas freischwebendes und kokettieren mit einem spielerischen Ernst.
Saša Stanišić flüchtete mit seinen Eltern 1992 vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland, hat schon als Gymnasiast mit dem Schreiben begonnen und seine Romane sind mehrfach preisgekrönt (u.a. mit dem Deutschen Buchpreis, Preis der Leipziger Buchmesse und Nelly-Sachs-Preis). Sein Erfolgsbuch „Herkunft“ (2019) setzte sich stark mit dem Hintergrund der eigenen Migrationsgeschichte auseinander.
Dieses Sujet spielt auch in den 12 Geschichten des neuen Bandes eine zentrale Rolle. Saša Stanišić erzählt von ganz normalen Menschen, von geradezu paradigmatischen Anti-Helden, aber jeder hat eine singuläre Lebensgeschichte im Rucksack der Erinnerungen.
Die Witwe Gisel in der Titelgeschichte sucht immer wieder das Grab ihres vor vier Jahren verstorbenen Mannes auf und sucht in einer Gefühlsmelange aus Schmerz und Sehnsucht die Zwiesprache mit dem Verstorbenen: „Einem geliebten Menschen böse zu sein, sollte niemandem schwerfallen. Beide schweigen dann eine Weile, oder einer geht Holz hacken, der andere Zugvögel gucken, oder was man halt gerne macht, und schon hat man Kraft, um einander wieder wohlgesonnen zu sein.“
Im einleitenden Text „Neue Heimat“ stehen die vier Jugendlichen Fatih, Piero, Nico und Sasa (alle mit Migrationsgeschichte) im Mittelpunkt. Sie fühlen sich als „Ausländer in Deutschland", als Abgehängte der Gesellschaft: „Über die Schule brauchen wir gar nicht reden". Es ist der Sommer 1994, den das Quartett in den Weinbergen am Rand von Heidelberg verbringen. Enttäuscht, desillusioniert, aber dennoch voller Träume. So erklärt Fatih: „Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft - wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit Schicksal."
Eine Figur namens Georg Horváth hat in der Vaterschaftszeit angefangen, Pokémon Go zu spielen und es dabei zu großen Erfolgen gebracht. Fußballer Miroslav Klose taucht als Figur auf, und eine andere Figur erhält ein Hausverbot in einer Fast-Food-Filiale in Winsen an der Luhe. Das klingt zunächst alles ziemlich harmlos und ist ausgesprochen unartifiziell erzählt. Doch in allen Texten schwingt latent ein großes Maß an Sehnsucht und Streben nach Anerkennung mit.
Wir begegnen auch einem Saša Stanišić, einer autofiktionalen Figur, die vorgibt, als Jugendlicher auf Helgoland gewesen zu sein und die dreißig Jahre später beschuldigt wird, ein Wirtshausschild aus dem „Inselkrug“ gestohlen zu haben. In der Erzählung „Hochsitz“ begegnen wir einer Figur, die dem Autor nicht unähnlich ist. Als Sechzehnjähriger verbringt er die Ferien in den Wäldern – ausgestattet mit Büchern von Heine, Kafka, Fallada und Domin, die aus der Stadtbücherei Heidelberg ausgeliehen wurden. Literatur fungiert hier als Auslöser für jugendliche Träumereien.
Saša Stanišić hat keinen Roman und auch keinen klassischen Erzählungsband vorgelegt. Der Band umfasst Geschichten mit leicht märchenhaftem Touch über höchst unterschiedliche Menschen, Stories voller Fantasie, vor allem aber mit leichter Hand und ganz viel Augenzwinkern geschrieben. Stanišić verbreitet dabei trotz aller Tragik eine positive Grundstimmung, spricht von Verbesserung der Lebensqualität und wünscht sich, "freundlicher zu allen" zu sein. Er horcht ganz tief in seine Figuren hinein und verleiht ihnen eine unaufgeregte, authentische Stimme.
"Literatur ist ja ein Möglichkeiten-Raum. Da probieren wir Geschichten aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart – und eben auch die Zukunfts-Geschichten – aus", erklärte Autor Saša Stanišić im Kontext dieses spielerisch-einfachen, aber doch tiefgründigen Bandes. Über allem thront die Sehnsucht für sich „einen kleinen Weg zu finden, wie klein der auch ist.“
Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.“ Luchterhand Verlag, München 2024, 252 Seiten, 24 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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