Judith Kuckart: Die Welt zwischen den Nachrichten
Nichts war genau so

„Alles ist gewesen, nichts war genau so“. Dieses Motto hat Judith Kuckart ihrem neuen autofiktionalen Roman voran gestellt, in dem sie wichtige Etappen aus ihrer Vita aus heutiger Perspektive nach erzählt, sie mit reichlich zeitgeschichtlichem Kolorit versieht und sich wiederholt die Frage stellt, wie stark der Einfluss von Zufällen in ihrem Leben war.

Judith Kuckart, 1959 in Schwelm geboren, ausgebildete Tänzerin und Choreografin, hat sich seit ihrem literarischen Debüt „Wahl der Waffen“ (1990) peu à peu literarisch weiter entwickelt und ist zu einer ganz wichtigen Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geworden. Parallel zu ihren literarischen Arbeiten ist sie auch emsig am Theater unterwegs. Im Herbst 2021 hatte sie mit ihrem Tanztheater „Skoronel“ das Stück „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht“ in Wiesbaden auf die Bühne gebracht.
"Als ich geboren werde, ist der Juni so heiß, dass die Menschen die Schattenlinien der Häuser nicht verlassen, als sei da, wo Sonne ist, ein Todesstreifen." Es ist der 17. Juni (damals noch der Tag der deutschen Einheit) des Jahres 1959, als sie in der Kleinstadt Schwelm (zwischen Wuppertal und Hagen gelegen) als Tochter eines untreuen Waschmaschinenvertreters zur Welt kam. „Wie viele Frauennamen wohl in seinem letzten Erzählen vorkamen?“, fragt sich Judith Kuckart in ihrer Erinnerung an Vater Leo im Sterbebett.
Schon in ihrer frühen Kindheit ist offensichtlich so etwas wie dichterische Fantasie entfacht worden. Ihre Mutter hat ihr, wenn sie krank war, oft Schallplatten mit Geschichten vorgespielt. „Zwischen meinen Wolldecken ließ ich eine A-Seite nach der nächsten über mich ergehen. Alle Geschichten waren nur halb erzählt.“ Wir erfahren aus der Kindheit auch, dass eine gelegentliche Babysitterin später als Mitglied der RAF eine der meistgesuchten Terroristinnen der BRD wird. "Ob Ina ihre Herkunft als peinlich empfindet und sich deswegen im Untergrund versteckt?“
Und da ist später im Teenager-Alter die richtungsweisende Begegnung mit Pina Bausch am Wuppertaler Tanztheater. Die Protagonistin macht sich vier Jahre älter, darf an einigen „Übungen“ teilnehmen, wird aber dann später gemaßregelt. In einem Interview mit dem NDR berichtete Judith Kuckart über diese Begegnung: „Ich habe ihr den Nachnamen von meinem Zahnarzt gesagt, weil ich mich undercover dahin gestellt hatte. Sie hat gesagt: 'Wie alt bist du denn?' Ich erwiderte: 'Neunzehneinhalb'. Sie hat mich auf die Stirn geküsst und gesagt: 'Dann kommst du mal wieder, wenn du neunzehneinhalb bist.' Das Vortanzen habe ich aber mitmachen dürfen.“ In der Nachbarschaft hatte ihr eine Frau den Ratschlag gegeben, zum Ballett zu gehen, „denn Tanz ist etwas für Kinder, die später im Leben einmal nicht zurechtkommen werden.“ 1977 macht sich Judith Kuckart nur mit einem Rucksack und drei Plastiktüten auf nach West-Berlin, wo sie später ein „anarchisch feministisches Kollektiv von Tänzerinnen“ gründet.
Wichtige Lebensetappen werden angerissen, kommentiert, hinterfragt und nach möglichen Alternativentwicklungen gesucht. Ein Leben im Konjunktiv wird durch dekliniert. Judith Kuckart hat dies alles eingebettet in die Zeitgeschichte, die sich im Rückblick auch anders darstellt als beim einstigen Selber-Erleben. Die Perspektiven ändern sich mit zunehmendem Alter.
Alles wirkt authentisch und irreal zugleich, ein anspruchsvolles autobiografisch unterfüttertes literarisches Puzzle zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Über allem schwebt in „Die Welt zwischen den Nachrichten“ die Frage: Wie oft haben Zufälle an den entscheidenden Rädchen im Lebensgetriebe gedreht?

Judith Kuckart: Die Welt zwischen den Nachrichten. Roman. Dumont Verlag, Köln 2024, 192 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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