Maxim Billers schmaler, provozierender Roman „Der falsche Gruß“
Moral auf der Briefwaage
Findet in diesem Herbst das große Hinterfragen moralischer Kategorien bei den Schriftstellern der mittleren Generation statt? Eva Menasse hat sich in ihrem opulenten Opus „Dunkelblum“ mit einem dunklen Kapitel der Geschichte im Burgenland auseinander gesetzt, Johanna Adorján beschäftigte sich in ihrem Roman „Ciao“ mit Veränderungen im Feuilleton-Betrieb, und nun deckt der große Provokateur Maxim Biller mit seinem kurzen, novellenhaften Roman gleich beide Bereiche ab – das Geschichtsbewusstsein und den Kulturbetrieb.
Der 61-jährige Biller, der seit mehr als drei Jahrzehnten sein Image als „enfant terrible“ des deutschsprachigen Literaturbetriebs pflegt (u.a. in der zweiten Generation des „Literarischen Quartetts“ im ZDF), bekannte einmal in einem „Zeit“-Interview: „Ich habe, wenn ich anfange zu schreiben, nie eine Ahnung, wie lang ein Buch wird.“
Das nimmt man ihm im Fall seines neuen Romans nicht ab, denn er ist so straff erzählt, so durchkomponiert, als sei er am Reißbrett entstanden. Den novellistischen Einstieg liefert ein Treffen in einer Berliner Szenekneipe Anfang des Jahrtausends. Dort begegnen sich zwei konkurrierende Schriftsteller, die literarisch und politisch kaum unterschiedlicher sein könnten. Der noch relativ unbekannte Jungschriftsteller Erck Dessauer, ein Mann voller Selbstzweifel, schickt dem jüdischen Bestseller-Autor Hans Ulrich Barsilay einen flüchtigen Hitlergruß entgegen. Die Empörung ist groß, Erck zieht sich zurück, liest keine Mails mehr, Angst treibt ihn um. Die Angst öffentlich vernichtet zu werden. Er erinnert sich, dass er schon als Kind heimlich vor dem Spiegelschrank im elterlichen Schlafzimmer den deutschen Gruß geübt hat.
Erck fühlt sich von Barsilay angezogen und angewidert zugleich. Er möchte dazu gehören, zum Kreis der auserwählten Autoren, die von der renommierten Verlegerin in ihrer Prunkvilla privat empfangen werden. Jeder Preist ist ihm recht, deswegen sucht er nach Fehlern in Barsilays autobiografischem Bestseller „Meine Leute“ und entlarvt eine Auschwitz-Reportage als Fälschung. Barsilay hatte geschrieben, dass er beim Besuch des Konzentrationslagers zusammengebrochen sei. Tatsächlich war er nie in Polen, und Erck Dessauer konnte dies nachweisen.
„Ab da wäre ich für alle Ewigkeit nur noch der Typ mit dem Hitlergruß, mehr nicht, ein schmutziger, scheußlicher Feuilleton-Nazi, und ich würde nie wieder von einer Redaktion, von einem Verlag einen Auftrag bekommen“, geht es Dessauer durch den Kopf.
Es beginnt eine Schmutzkampagne zwischen zwei selbstverliebten und starrköpfigen Autoren. Dabei benutzen beide (sowohl literarisch als auch politisch) nicht die Seidenhandschuhe, sondern schlagen (argumentativ) wild um sich.
Der Neu-Rechte Erck Dessauer, der nicht müde wird, immer wieder darauf hinzuweisen, dass er alles von Primo Levi und Imre Kertész gelesen hat, will mit seinem biografischen Buch „Eine sibirische Karriere“, die Verbrechen der Nazis relativieren. Naftali Frenkel, ein Stalin-Vertrauter, steht im Mittelpunkt des Buches. Er soll mit seinem GULAG-System den Nazis eine „ideologische Steilvorlage“ geliefert haben.
Maxim Biller hat trotz der Kürze dieses Buches hervorragende atmosphärische Bilder aus der Intellektuellenszene eingefangen und mit reichlich Selbstironie auch viele Eckpfeiler aus seiner eigenen Biografie (z.B. den gerichtlichen Streit um seinen Roman „Esra“) eingeflochten. Der Prenzlauer Berg kommt wie ein Biotop für gescheiterte Intellektuelle, die ihr Scheitern zur Kunst erklären, daher. Die Grenzen zwischen Humor, Arroganz und Respektlosigkeit werden hier fließend. Aber so – wirklich nur so – kennen wir Maxim Biller.
Er nimmt sich selbst und all die gehypten Debatten in den Feuilletons aufs Korn und stellt latent immer wieder die Frage: Was ist Moral? Was sind moralische Vergehen? Lassen sich (wie hier bei den Autoren Dessauer und Barsilay) gar die Vergehen vergleichen, wie auf einer Waage austarieren?
Biller erzählt alles (trotz des schmalen Umfangs) in einem ausschweifenden, leicht altbacken klingenden Tonfall mit unterschwelligen komödiantischen Zügen. Reale Figuren wie Herfried Münkler, Ernst Nolte und Rainald Goetz und deren Debatten schwingen als Dauer-Hintergrundmelodie mit.
Biller geht es auch um den Verfall des öffentlichen Diskurses, der sich auf Parolenformat reduziert hat und in dem hartnäckiges Insistieren auf eigenen Standpunkten als „Drei-Viertel-Sieg“ gefeiert wird. Zerrissene Lebenswege und konträre ideologische Ausrichtungen werden in beiden Figuren gespiegelt und geben so etwas wie die künstlerische Antwort auf Maxim Billers in einem Essay kreierten Typus des „Linksrechtsdeutschen“. Ein kleines Buch nur, aber ein gehaltvolles, ein intelligentes und provozierendes obendrein.
„Wer missbrauchte dieses Menschheitsverbrechen für seine kleinen, egoistischen Zwecke? Ich oder er?“ Ein kleiner Roman zum Nachdenken über die großen Fragen.
Maxim Biller: Der falsche Gruß. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2021, 121 Seiten, 20 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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