Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“
Mit Frechheit gegen die Angst

„Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.“ Mit diesem bedeutungsvollen Satz leitete Ralf Rothmann vor sieben Jahren seinen in 25 Sprachen übersetzten Roman „Im Frühling sterben“ ein, der den Auftakt seiner nun beendeten Romantrilogie über das wenig freudvolle Leben seiner Eltern machte.

Ganz behutsam hat sich der große Erinnerungskünstler Rothmann nun dem Leben seiner Mutter genähert, dem einstigen Landarbeiterkind Elisabeth, das am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Danzig geflohen war und auf dem Weg nach Westen brutalst vergewaltigt wurde. Was machen Flucht, Vertreibung und solch erlittene Gewalt aus einem jungen Menschen? Bleibt er auf ewig traumatisiert? Gibt es überhaupt die Chance auf einen Neuanfang?
Ralf Rothmann schickt (und das ist ein cleverer Kunstgriff) sein Alter-Ego Wolf zu Luisa Norff, einer guten Freundin der inzwischen verstorbenen Eltern, die wir aus dem Vorgängerwerk „Der Gott jenes Sommers“ (2018) bereits kennen und von der wir wissen, dass sie als Jugendliche dreimal „Vom Winde verweht“ gelesen hat. „Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu“, schrieb Wolf in einem Brief an Luisa über seine Mutter. Die junge Elisabeth versucht ihre Traumata durch ein Übermaß an Zerstreuung, an Amüsement und Affären zu kompensieren. Das flüchtige Glück als Therapeutikum gegen die geschundene Seele. Den Schmerz durch gespielte Ausgelassenheit betäuben. So schien sich Elisabeth ihr unglückliches Leben arrangiert zu haben.
Sie heiratet den Melker Walter, der später im Ruhrgebiet als Bergmann arbeitet, und es folgt ein Leben, das geprägt ist vom Verschweigen der Vergangenheit. Wolfs Eltern sind mehr Zweckgemeinschaft als inniges Paar, sie versorgen einander, ohne sich wirklich zu verstehen. Elisabeths permanente Unzufriedenheit (und wahrscheinlich auch das einst erlittene körperliche Leid) sucht sich ein Ventil in Form von Gewaltexzessen gegen die eigenen Kinder: „In der Kindheit prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der Sonntagshose, um verschüttete Milch. Jede Lappalie war ihr willkommener Anlass.“
Ralf Rothmann, der im Mai seinen 70. Geburtstag feiert, hat sich in all seinen Romanen immer auch am eigenen Leben abgearbeitet, aber mit stets wechselnden Perspektiven - bedingt durch das eigene Altern auch durch sich ständig erweiternde Erfahrungshorizonte beeinflusst. Seine Romane über Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet ("Wäldernacht", 1994, "Milch und Kohle", 2000, „Junges Licht“, 2004) sind in all ihrer Düsternis präzise Milieustudien aus einer Zeit, als die Schornsteine noch rauchten und Kohle zwischen Dortmund und Duisburg oft als „schwarzes Gold“ bezeichnet wurde. Ähnlich ist es auch um die Berlin-Romane bestellt („Flieh, mein Freund“, 1998, "Hitze“, 2003, „Feuer brennt nicht“, 2009), Rothmann lebt seiner einiger Zeit im beschaulichen Vorort Frohnau. Nie hat sich Rothmann selbst stilisiert, nie hat er verbalen Zuckerguss über seine Figuren ausgeschüttet. „Meine Zeit im Kohlenpott, die fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, hatte etwas Traumatisierendes für das scheue und verträumte Kind, das ich war“, hatte Rothmann kürzlich in einem Interview erklärt. Es schließt sich der erzählerische Kreis bei der Traumabewältigung. „Sie täuschte sich mit Frechheit über ihre Angst hinweg“, berichtet Freundin Luisa über die junge Elisabeth. Rothmann selbst befindet sich in einem offensichtlich unendlichen literarischen Selbstbefreiungsprozess. Schreiben gegen das Vergessen, schreiben gegen den Schmerz – ohne Hass, ohne Zorn. „Die Nacht unterm Schnee“ liefert trotz all der Bitternis sogar zwischen den Zeilen versöhnliche Töne. Angesichts dessen, was momentan in Osteuropa geschieht, sind Rothmanns Bücher aktueller denn je. Sie sollten Pflichtlektüre im Schulunterricht werden.

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 304 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.