Mit dem Pony durch den Tulpenwald 

Martin Walsers Roman „Gar alles“ erscheint am 27. März


Martin Walser schreibt und schreibt – mit nach wie vor atemberaubendem Tempo und bemerkenswerter formaler Brillanz. In seinem neuen Briefroman lässt der Grand Seigneur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der am 24. März seinen 91. Geburtstag feierte, einen auf bemitleidenswerte Weise gescheiterten Mann mittleren Alters Briefe an eine unbekannte Frau schreiben.

Justus Mall war einst Oberregierungsrat in einem bayrischen Ministerium und ist als Grapscher in der Pause einer Tristan-Aufführung unangenehm aufgefallen und öffentlich an den Pranger gestellt worden. Er wurde vorzeitig in den Ruhestand versetzt und schreibt seitdem philosophische Bücher („Die Lüge als Mutter der Wahrheit“ und „Der Irrtum als Erkenntnisquelle“).
„Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.“ Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser bereits in seinem 2016 erschienenen Roman „Ein sterbender Mann“, der ebenso wie sein im letzten Jahr erschienenes Werk „Statt etwas oder Der letzte Rank“ als künstlerische Gratwanderung zwischen Erzählung, Philosophie, Autobiografie und selbstironischem literarischen Verwirrspiel daher kam.
Es geht auch nun wieder um die Probleme des Älterwerdens, des gravierenden Auseinanderklaffens zwischen körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit und der nie versiegenden Begierde im Kopf. Martin Walser liefert wie in den vorangegangenen Büchern wieder eine ellenlange Selbstbefragung, Justus Malls Briefe lesen sich wie ein imaginärer Dialog mit seinem Spiegelbild.
Da gibt es eine Silke mit „goldblonder Haarpracht“ und „himmelblauen Augen, so blau waren noch keine Augen“, und deren Mund ist „ein wohlgeschwungener, aber schwerer Vorhang für ein gleißend weißes Zähnetheater.“
Ist das Poesie oder Kitsch? Meint Walser das ernst oder treibt er – und dieser Verdacht drängt sich rasch bei der Lektüre auf – ein ausgeklügeltes Verwirrspiel mit dem Leser?
Walser, der „Intendant“ des „Zähnetheaters“, darf das also, er hat es sich selbst erlaubt, aber zur Ehre gereichen ihm solche Spiele mit platten Klischees nicht. Man fühlt sich ein wenig vom Autor an der Nase herumgeführt, er jongliert zwischen Tiefsinn und Albernheiten hin und her, die Grenzen drohen dabei zu verschwimmen. Händeringend fragt man sich als Leser, was hinter Justus Malls Traum steckt, als er „auf einem Pony durch einen Tulpenwald reitet, vom Chianti singt, bis er merkt, dass er aufs Klo muss.“
Der Protagonist macht sich mehr oder weniger ernsthafte Gedanken über
Borkenkäferbefall an Bäumen, Beulen beim Ausparken, einen schwulen Theaterautor und über Demenz als „Erlösung“. Hier und da trumpft Walser dann aber auch wieder mit messerscharfen Aphorismen auf: „Erst wenn du niemanden mehr hast, dem du etwas vorwerfen kannst, näherst du dich dir selbst.“
Die kurzen Brieffragmente verbindet ein melancholisch-selbstironischer Tenor, wir lesen eine auf Hochglanz polierte Schlussstrich-Prosa. An einer Stelle glaubt man durch Justus Malls Stimme ganz nah bei Martin Walser zu sein: „Ich darf befürchten, dass ich manchmal Angst habe, mir werde nichts mehr einfallen, was ich verkaufen kann.“
Dieses schmale Walser-Büchlein weckt Analogien zur Sterne-Küche - alles ist fein arrangiert, erlesene Zutaten sind verarbeitet, aber richtig satt wird man dennoch nicht. Im Text heißt es: „Der Triumph der Form über den Inhalt. Das Dinner als Zeremonie des Überflüssigen.“

Keine Einfälle mehr
Am Ende ist man sich als Leser ziemlich sicher, dass Martin Walser einen kunstvollen Schabernack mit seinen Lesern treibt. „Mall könne schreiben, aber er habe keine Einfälle“, heißt es über die Hauptfigur. Genauso liest sich das vorliegende Stück Prosa
Die Kunst des Schreibens wird von Walser beinahe rituell zelebriert, die Wörter (mal erhitzt, mal schock-gefroren) zu philosophischen Sentenzen drappiert – hier eine Volte, da ein Spagat: Walser dirigiert die Sätze wie ein Ballettmeister, und er gefällt sich dabei in der Rolle des allwissenden Taktgebers, der wie ein Dompteur in der Arena des Lebens steht und die Wörter und Sätze vor den Augen seiner staunenden Leser durch den brennenden Ring springen lässt.
Immer ist uns der allmächtige Erzähler Walser einen Schritt voraus, denn die Interpretationshilfe zu diesem Erzählbrevier lieferte er schon auf Seite 9: „Das heißt zum Glück alles und nichts.“
An dieser wunderschön arrangierten Inhaltsleere kann man sogar Spaß haben, aber nur (und nur dann!!), wenn man „Gar alles“ nicht ernst nimmt, sondern lediglich als kunstvolles Spiel liest.

Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, 107 Seiten, 18 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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