Hanns-Josef Ortheils Roman „Der von den Löwen träumte“
Magische Kräfte der Lagune

„Viele Details habe ich bereits wieder vergessen, so dass mich manche Passagen durchaus zum Staunen bringen. Wie kam dieser oder jener Einfall denn in den Text? Keine Ahnung! Der Roman hat begonnen, sich vor mir zu verschließen und sich auf seine eigene Sprache und sein eigenes Denken zurückzuziehen“, erklärt Hanns-Josef Ortheil in seinem Blog über seinen gerade erschienenen Hemingway-Roman. Es geht darin um den Venedig-Aufenthalt des späteren Nobelpreisträgers, um eine tiefe Lebenskrise, eine handfeste Schreibblockade, um die Liebe zu einem jungen Mädchen und den Rückzug in die Stille der Natur.

Hanns-Josef Ortheil, einer der produktivsten und versiertesten Schriftsteller der Nachkriegsgeneration, hat sich vor zwanzig Jahren bereits ähnlicher literarischer „Strickmuster“ bedient und sich dichterisch an die Fersen historischer Figuren geheftet – zwischen 1998 und 2000 erschienen die opulenten Romane „Faustinas Küsse“, in dem er Goethe in Rom verfolgte, „Die Nacht des Don Juan“, in der er das Entstehen von Mozarts Oper „Don Giovanni“ nachzeichnete, und „Im Licht der Lagune“, der sich mit der bildenden Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinander setzte und der auch in Venedig angesiedelt war.
Dabei geht es Ortheil heute wie damals nicht um verbriefte historische Fakten, sondern um Orte (die er zu Recherchezwecken selbst aufgesucht hat) mit besonderer Atmosphäre und deren beinahe auratische Strahlkraft auf die porträtierten Figuren, die sich stets an einer wichtigen Gabelung ihrer Vita bewegen.
Hemingway kommt 1948 nach Venedig, geplagt von Depressionen, die er mit ungesund hohem Alkoholkonsum zu bekämpfen versucht. Es ist eine fatale Wechselwirkung zwischen Depressionen und beinahe zehnjähriger Schreibblockade, mit der der Autor zu kämpfen hat. Er steht kurz vor seinem 50. Geburtstag und hat auch handfeste vitale Probleme. Nicht etwas Mitleid, sondern große Empathie führt Ortheil die Feder.
Zu Beginn wird Hemingway von einem ebenso erfolglosen wie penetranten Journalisten verfolgt. Dieser Sergio Carini wittert in der Begegnung mit Hemingway die große Chance auf seinen Durchbruch und träumt von einem Buchprojekt „Hemingway in Venedig“. Beim ambitionierten Carini fehlt das Talent, bei Hemingway die innere Ausgeglichenheit – zum Schreiben kommen beide zunächst nicht.
Midlife-crisis, Alkohol, fehlende künstlerische Inspiration – wir begegnen in Ortheils Roman einem Genie, das kurz vor dem totalen Absturz steht und Italien bewusst als Zufluchtsort gewählt hat. Im ersten Weltkrieg hat er dort gekämpft und lag später verwundet im Lazarett. Erinnerungen an ein aufregendes, unstetes Leben (er ist zum vierten Mal verheiratet) gehen Ortheils Hauptfigur durch den Kopf, als er in einem abgelegenen Landhaus in der Lagune Ruhe findet. „Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt eine schönere Lagune gab.“
Nicht nur der Ort, sondern auch zwei Figuren, sorgen für eine Stimmungsumkehr bei Hemingway: ein junger, einfacher Fischer, mit dem er sich in der Abgeschiedenheit der Natur auf Entenjagd begibt, und eine 18-jährige bildhübsche Venezianerin, die erotische Schwärmereien entfacht.
Keine Frage: Als Leser weiß man rasch, wohin Ortheils dichterischer Hase läuft, dass hier im Idyll der Lagune auch die emotionale Basis für Hemingways Roman „Der alte Mann und das Meer“ entstanden sein soll.
Ortheils erprobter erzählerischer Kniff besteht darin, Orten magische Kräfte zu verleihen und diese auf seine Figuren einwirken zu lassen. Das hat beinahe märchenhafte Züge, ist aber nach psychologischen Kriterien nicht immer nachvollziehbar. Jedenfalls „gesundet“ Hemingway durch die Landschaft, durch seine entdeckte Liebe zum Meer, durch die Freundschaften und wahrscheinlich auch durch die reichlich servierten lukullischen Spezialitäten.
Ja, es wird Leser geben, die Ortheil eine Nähe zum kulturellen Kitsch vorwerfen werden. Aber wer sich einlässt auf seine eindringlichen Naturbeschreibungen, auf seine Liebe zu kleinen Details, wer sich von der evozierten Atmosphäre Venedigs gern gefangen nehmen lässt, der findet hier einen unterhaltsamen, sprachlich ausgefeilten Roman, der den Leser zur Entschleunigung, zur inneren Einkehr und auch zur Lektüre des in der beschriebenen Epoche entstandenen Hemingway-Romans „Über den Fluss und in die Wälder“ einlädt.

Hanns-Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte. Roman. Luchterhand Verlag, München 2019, 349 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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