Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises – Thomas Hettches Roman „Herzfaden“
Märchenhafter Tiefgang
Thomas Hettche, einer der profiliertesten und vielseitigsten Romanciers der mittleren Generation, nimmt den Leser in seinem neuen Roman über die Augsburger Puppenkiste mit auf eine ebenso faszinierende wie bedrückende Zeitreise. Der 56-jährige, in Berlin lebende Autor, der uns nach seinen ganz nah an der Gegenwart angesiedelten Romanen „Die Liebe der Väter“ (2010), „Woraus wir gemacht sind“ (2006) und „Der Fall Arbogast“ (2001) schon vor sechs Jahren in „Pfaueninsel“ in ein historisches, märchenhaft-schauriges Ambiente entführt hatte, arrangiert nun eine, auf zwei Erzählebenen changierende Geschichte, die wie Märchen und Parabel daherkommt.
Schon der Einstieg ist furios. Ein namenloses, zwölf Jahre altes Mädchen reißt sich nach einer Vorstellung von der Hand des Vaters los, öffnet eine unscheinbare Holztür, schrumpft selbst auf Marionettengröße und betritt eine wahre Märchenwelt - ein Zwischenreich, indem fast alles möglich zu sein scheint. Dort „leben“ sie alle friedlich beieinander, die Marionetten, über 6000 sollen es im Laufe der Jahre gewesen sein. Unter ihnen bewegt sich auch Hannelore Oehmichen, die Tochter des Theatergründers und exzellente Marionettenschnitzerin, die 1972 die Leitung der Augsburger Puppenkiste übernommen hat und von allen nur liebevoll „Hatü“ genannt wurde, gerade so, als sei sie selbst eine der Figuren.
Der rasante Aufstieg ist auch ein Sinnbild für das wiederaufgebaute Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, und zugleich verkörpert die Puppenkiste die Sehnsucht nach einer besseren Welt, in der das Gute die Oberhand behält. Was auf dem Dachboden geschieht, ist in auffälligen roten Schrifttypen gesetzt und lässt uns an einer märchenhaften, aber keineswegs rundherum heilen Welt teilhaben. „Hatü“ muss sich dort immer wieder gegen den bösen, niederträchtigen Kasperl zur Wehr setzen.
Auf der zweiten Erzählebene begleiten wir die Puppenspielerfamilie Oehmichen von 1939 bis Anfang der 1960er Jahre – beginnend mit Walters Einberufung zur Wehrmacht, über Hatüs Kindheitserinnerungen an offene Lastwagen, auf denen Juden deportiert wurden, bis hin zur ersten Fernsehproduktion von "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" durch den Hessischen Rundfunk.
Walter Oehmichen, Schauspieler und Oberspielleiter am Theater in Augsburg, war weder Nazi noch aktiver Widerständler. Er wollte mit seiner Bühne, mit seiner Puppenspielkunst zur Erziehung der Nachkriegsjugend beitragen, ihre von den „Nazis verdorbenen Herzen“ erreichen. Dabei war die später berühmt gewordene Puppenkiste eine Notlösung, ein großes Puppentheater (der Puppenschrein) war zuvor nach einem Luftangriff der Alliierten im Augsburger Stadttheater verbrannt.
„Herzfaden“ erzählt eine Art doppelte Familiengeschichte, die der Familie Oehmichen und die gänzlich märchenhafte Geschichte der Marionetten auf dem Dachboden. Dabei geht es weniger um die Rollen von Jim Knopf, Urmel, Kalle Wirsch, Totokatapi, die Blechbüchsenarmee oder den Sultan von Sultanien. Sie treten zwar auf und entwickeln auch eine erstaunliche Eigendynamik, aber letztlich hat Thomas Hettche seinen erzählerischen Fokus auf die gerichtet, die an deren Fäden gezogen und ihnen so ein Bühnen- und TV-Leben eingehaucht haben. Die Wechselwirkung zwischen Puppenspieler und Figuren gewinnt dabei beinahe dämonische Züge.
Für Walter Oehmichen, der seine Marionetten für bessere Menschen hielt, war der sogenannte Herzfaden enorm wichtig, denn er "macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht". Wahrscheinlich war Oehmichen ein verträumter Idealist, beseelt von einem beinahe missionarischen Weltverbesserungseifer. Und doch hat er mit seinem „Familienbetrieb“ ein wichtiges Kapitel der deutschen Alltagskultur der Nachkriegszeit geschrieben.
In diesem Roman mischen sich Traumabewältigung, Sehnsüchte, Kindheitserinnerungen und eine kaum greifbare Gefühlsmelange zu einem gewaltigen erzählerischen Koloss – mit leichter Hand geschrieben und geradezu märchenhaft inszeniert. Mit spielerischem Tiefgang hat Thomas Hettche selbst wie ein Puppenspieler agiert und schreibend auf wundersame Weise an unserem „Herzfaden“ gezogen. Eine der imponierendsten Neuerscheinungen dieses Bücherjahres.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2020, 280 Seiten, 24 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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