Stefanie vor Schultes vorzügliches Romandebüt
Leichen tropfen von den Bäumen

Es gibt sie doch noch, die so rar gewordenen Momente, wenn man aus dem immer unüberschaubarer werdenden Berg an Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt auf ein echtes Juwel stößt, wenn man die berühmt-berüchtigte Stecknadel im Heuhaufen ausfindig gemacht hat. Die 47-jährige, mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Marburg lebende Stefanie vor Schulte hat uns mit ihrem Romanerstling einen solchen Glücksmoment beschert.

„Warum muss er finden, was niemand finden will. Warum muss er wissen, dass die Menschen selbst schlimmer sind als alle Dämonen, vor denen sie sich grausen“, heißt es über den 11-jährigen Martin, Protagonist des bitterbösen und gleichzeitig hochmoralischen Märchens, in dem (der Romantitel legt es nahe) ein schwarzer Hahn eine zentrale Rolle spielt.
Dieser Martin musste in einer fernen, von Kriegen und Pest belasteten Zeit als Kleinkind mitansehen, wie sein Vater eine schreckliche Bluttat an der eigenen Familie beging, der die Mutter und die Geschwister zum Opfer fielen.
Er lebt zurückgezogen am Rand eines Dorfes, muss für sich selbst sorgen und wird von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt. Der spindeldürre Junge hat nämlich einen treuen Begleiter an seiner Seite, einen sprechenden schwarzen Hahn. „Es ist kein Kind der Liebe, es ist aus Hunger und Kälte gemacht“, heißt es im Dorf, und man wähnt Martin ob seines gefiederten Begleiters mit dem Teufel im Bunde. Der Hahn ist Freund und Beschützer, später schließt sich den beiden noch ein schweigsamer Maler an, der ins Dorf gekommen war, um ein Altarbild zu fertigen. Der Maler fungiert als eine Art höhere moralische Instanz, er weiß mit glasklarem Blick Gut und Böse zu unterscheiden und fungiert als Gegenpol zur ansonsten feindseligen Erwachsenenwelt.
Stefanie vor Schulte bedient sich klassischer Märchenvorbilder, mit einer klaren, schon vordergründig erkennbaren Trennung von Gut und Böse. Alles Böse konzentriert sich in der Figur einer mächtigen Fürstin, die ihre Untergebenen mit horrenden Abgaben ausplündert und die selbstverliebt, hochgradig egozentrisch und machtbesessen gezeichnet ist. Sie spielt mit Menschenleben und hat geradezu dämonische Züge.
Angst und Aberglaube, Hass und feste Feindbilder prägen das Leben. Wer mag, kann hier eine Brücke zu den „Coronaleugnern“ und deren Argumente finden, wenn gleich die Autorin erklärt: „Martin war schon vor der Pandemie da, und diese hat an ihm und seiner Geschichte auch nichts geändert. Die Pandemie hat doch eigentlich auch nur – im Guten wie im Bösen – gezeigt, was Menschen so tun.“
Der tapfere Protagonist wird Zeuge, wie ein kleines Mädchen von einem „schwarzen Reiter“ entführt wird. Martin will diesem schrecklichen Treiben auf die Spur kommen und ihm ein Ende bereiten. Ja, im Märchen funktioniert so etwas – da darf ein kleiner Junge sich mit den Mächtigen anlegen, darf für Recht und Gerechtigkeit kämpfen. Und in der Freiheit der (märchenhaften) dichterischen Fantasie geschieht dies mit guten Erfolgschancen. Wie der tapfere, moralisch „reine“ Junge die Tyrannin außer Gefecht gesetzt, soll hier nicht verraten werden. Heute würde man dies Zivilcourage nennen. „Es geht um die Gefühle, die solche oder ähnliche Geschichten beim Lesen oder Zuhören einmal ausgelöst haben. Dieses Versinken in einer Geschichte, die nie verlöschende Hoffnung auf einen guten Ausgang“, hat die Autorin kürzlich in einem Interview über ihr Romandebüt erklärt.
„Junge mit schwarzem Hahn“ ist ein rundherum gelungenes Märchen für Erwachsene – voller Grausamkeit und Fantasterei, so dass es einem bei der Lektüre bisweilen das Blut in den Adern gefrieren lässt, aber hier und da auch mit ganz viel Liebe, Mut und Zuversicht ausgestattet, die (kein Zufall) zumeist vom schwarzen Hahn ausgeht.
„Martin hat das Gefühl, im Zentrum allen Leidens, im Zentrum der Siechenden und Trauernden zu sein. Die Leichen tropfen von den Bäumen wie vergorene Äpfel.“ Der paradigmatische Märchenheld Martin steht einer Welt voller Düsternis gegenüber und nimmt den Kampf als eine Art Robin Hood in Bonsaiformat erfolgreich auf.
Stefanie vor Schulte hat diese von deutlichen Kontrasten geprägte Handlung in einer klaren, unpathetischen, aber dennoch äußerst präzisen Sprache erzählt. Eine Perle unter den Neuerscheinungen, fantasiereich und allegorisch, ein Debüt ohne Anfängerhaftes. Die Vorfreude auf das nächste Werk ist geweckt. Dazu meinte die Autorin: „Ein zweites ist geschrieben. Es wird komplett anders und also hoffentlich genauso wie das erste.“

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 227 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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