Norbert Gstreins Roman „Vier Tage, drei Nächte“
Leben im Konjunktiv

„War ich eine ebenso tragische wie lächerliche Figur, bei der sich am Ende Kunst und Leben nicht mehr unterscheiden ließen?“, hieß es in Norbert Gstreins Vorgängerroman „Der fehlende Jakob“ über die Hauptfigur, ein sensibler Künstler, der mit sich selbst und seiner geogra­fischen Heimat hart ins Gericht geht. Auf einem ähnlich schmalen Grat bewegt sich auch Gstreins neuer Roman, dem eine komplizierte Ménage-à-trois zugrunde liegt.

Ein Verhältnis zwi­schen Traum, Obsession, Fantasie und intellektuel­ler Dampfplauderei. Ge­nau vier Tage und drei Nächte während des Co­rona-Lockdowns erzäh­len sich Protagonist Elias, Ines und Carl nach dem Weihnachtsfest 2020 wirre Geschichten aus ihrem Leben – frei erfundene, verfälschte Episoden und ganz viel aus dem verdrängten Unterbewusstsein. Die­ses Arrangement erinnert stark an Arthur Schnitzlers „Reigen“, denn hier wie dort geht es primär um Sex. „Keiner von diesen Idioten hat Ines geliebt, wie ich sie geliebt habe und nach wie vor liebe, aber dass sich wiederholt einer fand, der sich das einbildete, ist eine ande­re Geschichte“, lässt Gstrein seinen Ich-Erzähler erklären.
Längst gehört der seit einigen Jahren mit seiner Familie in Hamburg lebende Österreicher Norbert Gstrein zu den arrivierten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der 61-jährige Autor hat sich in der Vergangenheit (auf seine sehr subjektive Art und Weise) wie­derholt brisanten Themen gewidmet. Nach dem Balkankrieg („Das Handwerk des Tötens“) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage („Die ganze Wahrheit“) stan­den in „In der freien Welt“ (2016) der Nahostkonflikt und in „Die kommenden Jahre“ (2018) die Flüchtlingsströme im Mittelpunkt.
Und nun? Jetzt stehen veränderte Wahrnehmungen und das Erzählen selbst im Zentrum – die Technik des Sich-selbst-erfindens, das Feiern einer Existenz im Konjunktiv.
Der Erzähler Elias, ein schwuler Hotelierssohn aus Tirol, irrlichtert als junger Nichtsnutz durch die Seiten - dauerträumend von seiner le­benslangen Fantasiegeliebten Ines, die seine Halbschwester ist. Sie akquirieren nicht nur in schöner Regelmäßigkeit neue sexuelle Part­ner für die männerverschlingende Ines, sondern die beiden verbindet auch ein Geheimnis um den Tod eines gewissen Marcel Fichtner. „Ich hatte in Ines' Gegenwart zu ihm gesagt 'Du traust dich nicht', sie hat­te herausfordernd gelacht, und er hatte...es dann allein versucht." Ein Skianfänger, der sich provoziert fühlte, dann einen Steilhang hinab stürzte und dieses abenteuerliche „Spiel“ der „Geschwister“ mit sei­nem Leben bezahlte.
In dieser Endlosschleife der gepflegten Plauderei gibt es keine Tatsa­chen, nur spekulatives Gerede, jugendlich anmutende Angeberei und jede Menge Zynismus. Alles scheint von einem Nebel des Unwahren eingehüllt zu sein. Sexuelles Begehren, Hass und Stalking spielen eine große Rolle, und immer wieder streut Gstrein Anspielungen auf die Literatur ein.
Kein Wunder, denn Ines ist Literaturwissenschaftlerin, lebt in Berlin und gewährt dem durch Corona arbeitslos gewordenen Elias und des­sen Geliebtem Carl ein Dach über dem Kopf. In Wirklichkeit leben bei­de vom Geld ihres gemeinsamen Vaters.
Ines gibt ihre Tätigkeit an der Uni auf, um einen Roman zu schreiben. Sie geht nach Sizilien und will dort ihr gewagtes Erzählwerk mit dem Titel „Drei Arten, ein Rassist zu sein“ zu vollenden. Darin hat sie eine Episode verarbeitet, die ihr der dunkelhäutige Carl erzählt hat. Eine der vielen Paradoxien bei Gstrein - die promovierte Germanistin ar­beitet künstlerisch an der Überwindung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen sie dem Genre Roman als Ganzes die Zu­kunft abspricht. Hier wird erzählend alles überwunden: Raum, Zeit, Träume, Obsessionen und sogar die eigene Identität.
"Mich treibt dieses Experimentieren mit unzuverlässigen, tatsächlich auch unheimlichen Ich-Erzählern immer weiter, auch in einer mögli­chen Erkundung, was den Wahrheitsbegriff in der Literatur betrifft", hatte Norbert Gstrein kürzlich erklärt.
Im vorliegenden Roman hat Gstrein das Experimentieren allerdings über Gebühr ausgereizt. Ein künstlerisch wie philosophisch höchst ambitioniertes Spiel, bei dem der Leser allerdings (fragend und total verunsichert) auf der Strecke bleibt.

Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2022, 349 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.