Ulrike Draesners exzellenter Roman „Schwitters“
Kein Gedicht, eine Erkenntnis

„Es war ein ziemliches Abenteuer, denn ich wusste eigentlich wenig über ihn. Als ich anfing, kannte ich gerade mal seine Ursonate und ein paar Collagen“, erklärte die vielfach preisgekrönte Schriftstellerin Ulrike Draesner über ihr Verhältnis zum Schriftsteller und Collage-Künstler Kurt Schwitters (1887-1948), dem sie nun eine opulente Romanbiografie gewidmet hat.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Autorin hatte keine faktenorientierte, detailverliebte Biografie im Sinn, sondern sie hat sich künstlerisch an Schwitters Vita entlang gehangelt. Das Individuum Schwitters im historischen Kontext des aufkommenden Nationalsozialismus und in der permanenten Interaktion mit seiner Kunst steht im Vordergrund.
Bei der 58-jährigen Ulrike Draesner, die in jungen Jahren als Lyrikerin reüssierte, geschieht dies in einem federleichten, poetisch-narrativen Tonfall: „Kurt hört Geräusche, erste Laute, Figuren, beweglich und hübsch, manche scheu, andere kühn bis zur Tollheit, schwankend wie Weidenäste, die lange unter Wasser hingen, schweben auf ihn zu.“
Schwitters, der kongeniale Lautmaler, der sich wie ein Harlekin zwischen Tiefsinn und Unsinn bewegen konnte, hatte schon in jungen Jahren gesundheitliche Probleme. Er litt an Epilepsie, später erlitt er einen Schlaganfall. Er lernte, damit umzugehen. Viel größere Probleme bereitete ihm der Verlust der Heimat, als er von den Nazis als „entarteter Künstler“ verfemt wurde und Deutschland verlassen musste. „Weil Herkunft meint, wie man darüber spricht, wer man wird, indem man erfindet, wer man war, um zu werden, was man nicht sein muss, sondern sein kann. Das ist kein Gedicht. Das ist eine Erkenntnis.“ Man möchte hinzufügen, das ist Schwitters' Kosmos, die Gedankenwelt eines fanatisch Unbeugsamen, der zunächst (gemeinsam mit seinem Sohn Ernst, ein künstlerisch ambitionierter Fotograf) nach Norwegen und dann nach Großbritannien ins Exil ging.
Seine letzten zehn Lebensjahre sind eine einzige Odyssee. Bettelarm und schwer krank will er sich an seine Kunst klammern. Der Versuch wirkt ein wenig, wie der sprichwörtliche Strohhalm, an den sich ein Ertrinkender zu klammern versucht. Physisch wie psychisch wachsen Schwitters' Leiden, vereinsamt und hilflos lebt er im Lake District Nationalpark im Nordwesten Englands, wo er jedoch noch seinen dritten gewaltigen Merzbau (riesige begehbare Installationen) in Angriff nimmt und der erst viele Jahre nach seinem Tod entdeckt und für die Nachwelt erhalten wurde.
Die Entfremdung von seiner Muttersprache wird immer stärker, er fühlt sich isoliert in der Fremde, von seinen künstlerischen Wurzeln abgeschnitten und verstummt im Norden Englands nahezu. Die Briefe an seinen in Norwegen lebenden Sohn Ernst, der sein Vater einmal ein „Brodelphänomen“ nannte, verfasst er gar in Englisch. Einzige Bezugsperson in den letzten Lebensjahren (er starb 1948 in Kendal) ist die junge Britin Edith Thomas, genannt Wantee, die er in London kennen gelernt hatte. Seine Ehefrau Helma hatte Deutschland nicht verlassen und lebte in Hannover. Wir begegnen in Ulrike Draesners umfangreicher Romanbiografie einem empfindsamen, eigenbrötlerischen Künstler, dem es – so gewinnt man den Eindruck – stärker um die Bewahrung seiner Kunst als ums eigene Überleben geht. Was mag dieser eigenwillige Kurt Schwitters tatsächlich für ein Mensch gewesen sein? Ein Grenzgänger, der mit allen Konventionen brach? Ein egomaner Selbstinszenierer? Oder doch ein genialer, richtungsweisender und unterschätzter Künstler?
Ulrike Draesner hat uns an die Hand genommen und uns an ihrer inspirierenden, poetischen Erkundungsreise auf den Spuren von Kurt Schwitters teilhaben lassen. Kein belehrendes Buch, eher eines, das unendlich viele Fragen aufwirft und bis ins tiefste Innere aufwühlt.
Kurzweilig, anregend, empathisch, ja sogar lehrreich – ein großes Leseabenteuer.

Ulrike Draesner: Schwitters. Roman. Penguin Verlag, München 2020, 471 Seiten, 25 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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