Tonio Schachingers Roman „Echtzeitalter“
Internat als Hölle
Auf der ersten Seite beschreibt der 31-jährige Autor Tonio Schachinger äußerst detailliert die Außenansicht eines bekannten Wiener Internats. Sein Tonfall schwankt dabei zwischen Bewunderung und Verachtung. Dieser disparate Grundtenor zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung des zweiten Romans des Wiener Schriftstellers, der 2019 mit seinem Debüt „Nicht wie ihr“ auf große Resonanz gestoßen war.
Im Mittelpunkt der Handlung, die von 2010 bis in die Corona-Zeit reicht, steht der Schüler Till Kokorda, der als Viertklässler seinen Vater verliert. Wir durchleben mit ihm acht Klassen am Marianum, die „berühmteste Privatschule“ des Landes, die dem Wiener Theresianum nachempfunden ist.
Hier tummelt sich inmitten eines weitläufigen Parks (mit Hallenbad und Fußballfeld) und umgeben von hohen Mauern die zukünftige Elite des Landes, angehende Mediziner, Diplomaten und Rechtsanwälte. Ein Ort, der gleichermaßen wie Schule, Vergnügungsstätte und Gefängnis wirkt – abgeschottet von der Außenwelt.
Keine andere Figur verkörpert die Werte des Marianums so sehr wie der despotische Deutschlehrer Dolinar, der wegen seiner Herkunft aus Kärnten und dem in seiner Familie grassierenden rechten Gedankenguts einen schweren Stand hat. Dieser Lehrer steht für Härte, die er auch durch Schikane und Willkür untermauert, beinahe militärische Disziplin und Pünktlichkeit.
Till fällt hier aus dem Rahmen. Seine Eltern sind nicht so reich wie die seiner Mitschüler. Er leidet unter den Drangsalierungen des Deutschlehrers und hat auch Probleme mit dem konservativen Denken seiner Mutter. Nach dem Tod des Vaters flüchtet Till gänzlich in das Computerspiel „Age of Empires“ und avanciert hier zu einem „Champion“ in der virtuellen Welt. In der fünften Klasse ist Till bereits einer der weltweit besten Hobby-Gamer des Computerspiels Age of Empires, nimmt an internationalen Gaming-Turnieren teil und verliebt sich in seine Mitschülerin. Je mehr sein Ruhm in der virtuellen Welt wächst, umso schlechter werden seine schulischen Leistungen.
Ein schwerer seelischer Rucksack, den der pubertierende Till zu schleppen hat. Seine Affinität zum Echtzeitstrategiespiel «Age of Empires 2“ steht hier auch für eine Flucht aus dem Schulalltag. Gleichzeitig erwirbt er sich durch seine Erfolge in der virtuellen Welt Anerkennung im Kreis seiner Mitschüler. „Entweder man liest gerne, oder man spielt gerne Games. So oder so verpasst man was“, lässt Autor Tonio Schachinger einen von Tills Mitschülern resümieren.
Schachinger schafft es mit großer Detailkenntnis (und wohl auch mit großer Sympathie) die Lebendigkeit der virtuellen Welt zu beschreiben, Tills Faszination wird aus den Buchdeckeln heraus spürbar. Wie durch eine Art Funkenschlag, hat es ihn im zarten Kindesalter entflammt. Schachinger will in seiner Rolle als Autor nie klüger rüber kommen als die Teenager. In dieser Coming-of-Age-Erzählung überzeugt vor allem die künstlerische Balance zwischen Pointenreichtum und dem notwendigen erzählerischen Atem, um seine Figuren älter werden und schlüssig reifen zu lassen. Es gibt kein pro oder contra in der Erzählhaltung. Autor Schachinger, der an der Universität Wien Germanistik studierte, entgeht der Gefahr, die analoge Welt als die bessere gegen die digitale auszuspielen.
„Echtzeitalter“ ist ein mit allen Stimmungsschwankungen der Pubertät versehener Roman über das Heranwachsen, über Freunde, die Beziehung zu Eltern, den Machtapparat Schule und vor allem auch die Faszination für Computerspiele.
Schachinger gelingt eine hervorragende, demaskierende Beschreibung der sogenannten besseren Gesellschaft, die er "die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade" nennt.
Und am Ende stehen sich Till und seine Freundin Feli mit ihren völlig unterschiedlichen „Steckenpferden“ gegenüber. Till gehört weltweit zu den Top 10 der Gamer-Szene, und Feli hat es mit ihren ersten schüchternen literarischen Versuchen zu Anerkennung in der lokalen Szene gebracht.
„Es war die Hölle, du Idiot“, bilanziert Till am Ende im Rückblick seine Schulzeit. Und genau diese Hölle hat Tonio Schachinger absolut authentisch als Selbstfindungsprozess beschrieben – mit psychologischem Tiefgang, empathischen Schmerzempfindungen, aber auch mit Humor. Alles fein dosiert.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 365 Seiten, 24 Euro.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.