Annette Mingels' Roman „Der letzte Liebende
Im vollkommen leeren Raum

„Einsamkeit, das war es, worum es ging. Wenn er die Augen schloss, war es, als stürze er in einen vollkommen leeren Raum, mit nichts darin, das ihm Auftrieb gab", bilanziert Carl Kruger, der Protagonist in Annette Mingels neuem Roman - ein in die Jahre gekommener Chemieprofessor.

Komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen sind seit vielen Jahren das bevorzugte Sujet, der 52-jährigen Autorin, die nach etlichen Jahren in den USA seit 2021 in Berlin lebt. Doch anders als in den Vorgängerwerken „Dieses entsetzliche Glück“ (2020), „Tontauben“ (2010), "Der aufrechte Gang" (2006) und "Die Liebe der Matrosen" (2020) widmet sich Annette Mingels einem größeren Erzählkosmos. Sie rekonstruiert das Leben des einstigen Chemie-Professors Carl Kruger, um die achtzig Jahre alt, kauzig und immer ein wenig unzufrieden.
Fast sechs Jahrzehnte war er mit Helen verheiratet, eine Frau, die (mehr aus Gewohnheit denn aus Liebe) bei ihm geblieben ist – trotz der diversen Seitensprünge des Ehemannes, zumeist mit blutjungen Studentinnen.
Wenn sich Carls Leben retrospektiv aus vielen kleinen Fragmenten zusammen setzt, erscheint am Ende ein ziemlich klar konturiertes Bild eines Egoisten: „Manchmal schien es ihm ganz und gar nicht unmöglich, dass sein eigenes Ende mit dem der Welt zusammenfallen würde.“
Die verbitterte Ehefrau Helen wird vom Krebs dahin gerafft. Obwohl die Ehe längst nur noch den Status einer Gewohnheitsbeziehung hatte, ist dies für Carl eine harte Zäsur. „Sie hatten beide immer getan, als gäbe es eine zweite Chance. Als wäre dieses Leben die Generalprobe fürs nächste.“
Die Adoptivtochter Lisa kümmert sich um den Witwer, eher aus Pflichtgefühl, denn aus herzlicher, familiärer Verbundenheit. Carl vagabundiert ziellos durch New York, der Kreis der Freunde und Bekannten – ist altersbedingt – klein geworden, die Einsamkeit dominiert fortan seinen Alltag. "Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte.“
Carl begibt sich mit seiner Tochter und Enkel Jason auf eine Reise in seine Kindheit, diesseits und jenseits der heutigen deutsch-polnischen Grenze, wo er aufgewachsen ist und seine Brüder Hermann und Conrad treffen wird.
Die Entfremdung ist zu groß, um so etwas wie Herzlichkeit aufkommen zu lassen. Im Gegenteil - alte Ressentiments werden „aufgefrischt“. Conrad, der (wie einst der Vater) ein überzeugter Kommunist war (und wohl auch geblieben ist), hat Carl die Flucht in den Westen nie verziehen.
Die Hauptfigur ist auf ihre alten Tage zum Außenseiter geworden, zu einer Person, die eine Mischung aus Verachtung und Spott ertragen muss. Carls ehemaliger Kollege Trevor veröffentlicht einen Roman, dessen Protagonist Carl (keineswegs zufällig) sehr ähnlich und höchst unsympathisch gezeichnet ist. Bei einer Lesung, die der Protagonist besucht, platzt es aus ihm heraus: „Viele junge Frauen fühlen sich zu älteren Männern hingezogen.“
In winzigen Schritten gewinnt Carl innere Ruhe und auch wieder Zutrauen zu seiner Tochter und reflektiert seine langjährige Ehe mit Helen: „Er schaltete die Lampe aus. Die Dunkelheit schien allumfassend, ein Gefühl des Verlustes überkam ihn, eine Hoffnungslosigkeit.“
Annette Mingels' Blick auf diese unsympathische Männerfigur, auf einen paradigmatischen „alten, weißen Mann“, der an Protagonisten aus den späten Romanen von Philip Roth und John Updike erinnert, hat keine polemische Schärfe. Behutsam, wie mit Glacéhandschuhen, geht die Autorin mit dem Thema Älterwerden um.
„Der letzte Liebende“ ist kein Roman, in dem Schmerz und Trauer den Takt vorgeben und ist auch keine Abrechnung mit einem „schlechten“ Ehemann und Vater. Es ist ein Buch über kleine Bewusstseinsänderungen, über tiefschürfende Selbstreflexionen und wieder gewonnenes Vertrauen. Ein sanftes Buch, aber mit großer Tiefe.

Annette Mingels: Der letzte Liebende. Roman. Penguin Verlag, München 2023, 300 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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