Hetzjagd auf die Puppe


Richard Flanagans beklemmend-aktueller Roman „Die unbekannte Terroristin“

Der australische Autor Richard Flanagan ist im deutschsprachigen Raum einem breiteren Publikum erst 2014 durch seinen mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ bekannt geworden – ein bedrückendes Werk über die Grausamkeiten in einem japanischen Kriegsgefangenenlager im Grenzgebiet zwischen Thailand und Birma.

Nicht minder dramatisch und bedrückend geht es im nun in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die unbekannte Terroristin“ zu, der im Original bereits zehn Jahre alt ist, aber dessen Handlung aktueller denn je wirkt.
Der 55-jährige Richard Flanagan erzählt darin die Geschichte der aus ganz einfachen Verhältnissen stammenden Stripperin Gina Davies, die vom sozialen Aufstieg träumt, Designerkleidung bevorzugt und sich eine kleine Eigentumswohnung in Sydneys bevorzugtem Wohnviertel wünscht.
Doch irgendwann ist Gina, die überall nur „Puppe“ genannt wird, zur falschen Zeit am falschen Ort, und im Handumdrehen wird aus der Stripperin Australiens meistgesuchte Frau. Nach einem One-Night-Stand mit dem später erschossenen Terroristen Tarig wird eine mediale Hetzjagd inszeniert. Eine Freundin rät Gina, zur Polizei zu gehen und den Irrtum aufzuklären. Doch die junge Frau gerät in Panik und will nur untertauchen.

Tänzerin des Todes
Ginas fanatischster Jäger wird der alternde TV-Journalist Cody, der unter starkem Druck steht, eine tolle Story liefern zu müssen. Er erhält ein paar halbwahre Tipps und kennt Gina selbst flüchtig von Clubbesuchen. Sein beruflicher Druck vermischt sich mit einer gehörigen Portion persönlicher Rache, weil Gina ihn einige Male abblitzen ließ. Gina wird als „Tänzerin des Todes“ bezeichnet, eine andere Schlagzeile lautet "Stripperin bombt für die Mullahs".
Ein zwielichtiger, psychisch äußerst labil gezeichneter Geheimdienstmitarbeiter meint gar, dass es für die Gesellschaft und auch für Gina das Beste wäre, wenn sie erschossen würde.
Je weiter man in den Roman eindringt, umso stärker fühlt man sich an die 1974 erschienene Böll-Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ erinnert, in der die verhängnisvolle Macht der Medien, damals ging es allerdings „nur“ um ein einziges Boulevardblatt, gegeißelt wurde.
Vorverurteilungen, Denunziationen und kanalisierter Hass machen Gina Davies zum Freiwild. Eine unschuldige, wehrlose junge Frau wird wissentlich zur Terroristin abgestempelt. Die Medien haben ihre Story, die Politik und die Sicherheitsorgane können in fataler Eintracht kurzzeitig ihre eigenen Unzulänglichkeiten in der Terrorismusbekämpfung kaschieren.
Nächstenliebe, Toleranz und Empathie existieren in dieser gefühlskalten Sydneyer Welt nicht. Richard Flanagan hat mit diesem beklemmend-aktuellen und unter die Haut gehenden, bereits 2006 in Australien erschienenen Roman die momentanen üblen Auswüchse des postfaktischen Zeitalters literarisch vorweg genommen.

Richard Flanagan: Die unbekannte Terroristin. Roman. Aus dem australischen Englisch von Eva Bonné. Piper Verlag, München 2016, 331 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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