Javier Cercas' hochbrisanter Roman „Terra Alta“
Hass, Rache und Gewalt
Spätestens mit seinem Roman „Anatomie eines Augenblicks“, den die wichtigste spanische Tageszeitung „El Pais“ 2009 zum Buch des Jahres kürte, hat der 59-jährige Javier Cercas auch außerhalb Spaniens den Durchbruch geschafft. Acht Jahre zuvor hatte der im katalanischen Girona lebende Autor schon mit „Soldaten von Salamis“ eine Art Tabubruch begangen, in dem er als bekennender Linker künstlerisch den Versuch unternommen hatte, sich in einen politischen Führer der Falange hineinzuversetzen.
Seit vielen Jahren sieht sich der auch als Journalist tätige Cercas immer wieder heftigen, zumeist politisch motivierten Anfeindungen ausgesetzt. In diesem Frühjahr war er Opfer einer perfiden Fake-News-Kampagne geworden. Ihm war von katalanischen Separatisten vorgeworfen worden, dass er zu einer Militärintervention in Katalonien aufgerufen habe. „Seit vielen Jahren versuchen sie, mich einzuschüchtern, mich zum Weggehen zu bewegen oder mich zum Schweigen zu bringen. Ich werde es nicht tun. Das ist mein Zuhause“, meinte der in der Extremadura geborene Cercas.
Sein neuer, mit dem angesehenen Premio Planeta ausgezeichneter Roman „Terra Alta“ kratzt wieder an den noch nicht gänzlich vernarbten Wunden der jüngeren spanischen Geschichte. Auf den ersten Blick glaubt man, es mit einem ziemlich brutalen Krimi zu tun zu haben. „Ihnen wurden Augen, Fingernägel, Zähne und Ohren ausgerissen, die Brustwarzen abgeschnitten, sie wurden aufgeschlitzt und ausgeweidet."
Opfer eines bestialischen Doppelmordes ist das hochbetagte, wohlhabende Unternehmerehepaar Adells geworden. War dies ein politisch motivierter symbolischer Mord? Welche Rolle spielte die Unternehmerfamilie in der Zeit der Franco-Diktatur? Schnell bilden sich im Hinterkopf Analogien zu Cercas' inzwischen 20 Jahre alten Roman „Soldaten von Salamis“ über die gespaltene spanische Gesellschaft, in der die radikalen politischen Ideologien selbst Familien unversöhnlich gespalten haben.
Im Mittelpunkt des ausschweifend erzählten Romans steht eine Figur, die in ihrer Ambivalenz wie die berühmte Faust aufs Auge dieser Handlung passt. Melchor Marín, Sohn einer Prostituierten, stammt aus dem Armenviertel Barcelonas und ist dort als Jugendlicher straffällig geworden. Hinter Gittern erfuhr er von der brutalen Ermordung seiner Mutter. Dass er später seine Rachegelüste in der Polizeiuniform auslebte und speziell gegen Delinquenten, die Frauen Gewalt angetan hatten, „radikal“ vorging, mag psychologisch noch einigermaßen plausibel klingen, doch in der Romankonstruktion kann man es allenfalls unter dem Siegel der „dichterischen Freiheit“ tolerieren.
"Der Grund für diese neuen Themen ist wohl, dass ich mich selbst verändert habe", erklärte Javier Cercas kürzlich in einem Radiointerview in Anspielung auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Autonomiebestrebungen in Katalonien vor vier Jahren.
Melchor Marín, verheiratet und Vater einer Tochter, wird irgendwann aus Barcelona ins abgelegene Terra Alta versetzt, ein schmaler Landstrich im Süden Kataloniens. Ausgerechnet dort in der Provinz an der Ebro-Mündung im Dunstkreis der Stadt Tortosa stößt er auf den brutalen Doppelmord, der ihn weit über das berufliche Engagement hinaus in den Bann zieht. Als das zuständige Kommissariat die Ermittlungen einstellt, macht Marín dies misstrauisch und weckt seinen „Ermittlerehrgeiz“.
Gewalt, Hass, Rache, die Neigung zur Selbstjustiz und die bisweilen wundersam anmutende Wandlung der Hauptfigur Melchor Marín (er liest zwischenzeitlich Victor Hugos "Die Elenden") vom Saulus zum Paulus – das sind die zentralen Motive dieses bewegenden, aber arg holzschnittartig daher kommenden Romans von Javier Cercas, der uns allzu plakativ die tiefen Risse in der spanischen Gesellschaft vor Augen führen will.
Nur selten finden Autoren die passenden Worte über ihre eigenen Werke. Dies zumindest ist Javier Cercas gelungen: „Dieses Buch ist ein Nachdenken über den Hass, das aber zu keinen klaren Antworten gelangt.“ Als Leser weiß man nicht so recht, ob man sich auf den in Spanien bereits angekündigten Folgeroman um die Hauptfigur Melchor Marín freuen soll.
Javier Cercas: Terra Alta. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021, 428 Seiten, 24 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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