Sigrid Nunez' Roman „Die Verletzlichen“
Harmlos und doch tiefgehend

Sigrid Nunez ist eine spätberufene Autorin. Sie war bereits Mitte vierzig, als sie ihre ersten Werke veröffentlichte.

„Wenn die Leute fragen, warum ich mich so hingezogen fühle zum Thema Sterblichkeit, dann will ich immer antworten, dass es doch eher so ist, dass die Sterblichkeit mich zu sich heranzieht“, erklärte die inzwischen 73 Jahre alte amerikanische Autorin, die erst 2018 mit ihrem später mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman „Der Freund“ den literarischen Durchbruch geschafft hatte. Nunez, die äußerst lesenswerte semi-fiktive Bücher über Virgina Woolf und Susan Sontag (mit der sie befreundet war und für die sie einst arbeitete) geschrieben hat, wurde 2021 in die „American Academy of Arts and Letters“ berufen.
Nun hat Sigrid Nunez einen Roman vorgelegt, der sich mit den Lebensveränderungen in der Zeit der Corona-Pandemie beschäftigt. „Die Mittelschicht versteckt sich, während die Arbeiterklasse ihnen die Sachen bringt. Eine andere Version: Weiße verstecken sich, während schwarze und braune Menschen ihnen die Sachen bringen.“
Eine namenlose Erzählerin hütet das luxuriöse Apartment einer Freundin, die an der amerikanischen Westküste festhängt. Die Frau von Anfang siebzig ist Universitätsdozentin und Schriftstellerin im Wartestand, denn sie kämpft gegen eine Kreativitätskrise. Eine bleierne Schwermut liegt über der Handlung, der Kopf der Protagonistin scheint für „Attacken“ aller Art empfänglich zu sein. Für ein klein wenig Zersteuung sorgt die Beaufsichtigung des Papageis ihrer Freundin. Kurze Spaziergänge gehören zu den herausragenden Aktivitäten des Buches. Ansonsten wird wahnsinnig viel nachgedacht, gegrübelt und erinnert. Keiner Chronologie folgend, sondern sehr locker assoziativ.
Es ändert sich auch nicht viel, als ein junger, attraktiver Student (ein guter Bekannter der Wohnungsbesitzerin) mit in das Apartment einzieht. „Die Wohnung ist auch groß genug für uns beide. Aber es ist so anders, wenn er da ist. Er kann nichts dafür, ich weiß, aber die ganze Wohnung ist voller Testosteron.“
Bei Sigrid Nunez' Hauptfigur geht es um eine Bestandsaufnahme von inneren Befindlichkeiten, wie eine Inventur der eigenen Gefühle. Der Lockdown hat sie zu sich selber zurück gebracht – zu allen Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und Verzweiflungen. Nach und nach stellt sich auch eine gewisse Vertrautheit mit Eureka, dem Papagei ihrer Freundin, ein. Ein Motiv, das wir aus Sigrid Nunez' Vorgängerwerk „Der Freund“ kennen, in dem die Protagonistin die Dogge eines befreundeten Professors betreute, der Suizid begangen hatte.
„Die Verletztlichen“ ist beinahe selbstverständlich auch ein Buch über das Älterwerden, über verblassende und noch präsente Erinnerungen, über rare Glücksmomente, schmerzhafte Niederlagen und über Erfahrungen mit richtungsweisenden Bücher von Joan Didion, über Anton Tschechow bis zu Günter Grass.
Hat die Schreibkrise gar mit Covid zu tun? Mit physischen oder psychischen Auswirkungen der Pandemie? Immer mehr Fragen türmen sich auf, die Gedanken hüpfen behände von Thema zu Thema.
Da ist die verhaltene Auseinandersetzung mit ihrem jungen Mitbewohner, der für seine vegane Ernährung wirbt. Es treffen unterschiedliche Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen aufeinander – sanft formuliert, beinahe beim Leser um Verständnis werbend. En passant lernen wir auch noch die Lebensgeschichte der reichlich chaotischen Freundin Lily kennen.
„In fast jedem langen Buch, das ich lese, sehe ich ein kurzes, das sich vor der Arbeit drückt“, lässt Sigrid Nunez (durchaus selbst charakteristisch) ihre Protagonistin befinden.
„Die Verletzlichen“ ist ein ungemein präzises Buch über innere Befindlichkeiten, ein kleiner Roman über die noch nicht ferne Zeit, als wir glaubten, die Welt würde still stehen. Sigrid Nunez lässt uns auf faszinierende Weise an ihren tiefgehenden Reflexionen teilhaben – und das in einem unterhaltsamen und unterschwellig sogar humorvollen Tonfall.
Ein Buch so harmlos wie ein Kaffeekränzchen, aber doch tiefgehender als viele philosophische Seminare.

Sigrid Nunez: Die Verletzlichen. Roman aus dem Amerikanischen von Anette Grube. Aufbau Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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