Hamlet aus dem Mutterleib
„Nussschale“ - der neue Roman von Booker-Preisträger Ian McEwan
"Mich interessiert das menschliche Innenleben, das nicht von oberflächlicher Logik angetrieben ist", hat der britische Schriftsteller Ian McEwan einmal selbst sein dichterisches Credo beschrieben. Der 68-jährige pflegt seit Jahr und Tag ein ausgeprägtes Faible für spannungsgeladene Geschichten, in denen Figuren in psychischen Ausnahmesituationen im Mittelpunkt stehen.
Ob eine Frau, die sich von zwei monsterartigen Hunden bedroht fühlt ("Schwarze Hunde", 1994), ob das picknickende Ehepaar Clarissa und Joe, das plötzlich einen navigationsunfähigen Heliumballon mit einem Kind an Bord entdeckt ("Liebeswahn", 1998) oder der morgendliche Alptraum in "Saturday" (2005): Booker-Preisträger McEwan fesselt und schockiert den Leser gleichermaßen, in dem er uns in atemberaubender Weise einen schonungslosen Einblick in die seelischen Abgründe seiner Figuren gewährt.
Und daran hält er auch in seinem neuen Roman fest, den er aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes erzählt. "So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." Mit diesem Satz leitet McEwan seinen neuen Roman ein, in dem ein acht Monate alter Fötus als stiller Beobachter am Leben seiner Mutter teilnimmt. Schon nach wenigen Seiten wird klar (auch wenn man das vorangestellte Shakespeare-Zitat überlesen haben sollte), dass wir uns in einer tollkühnen, modernen Hamlet-Adaption befinden. Wie „Hamlet“ wird der Fötus Mitwisser eines Familiendramas und wehrt sich innerlich dagegen als Halbwaise aufwachsen zu müssen.
Mutter Trudy (Gertrude), die dem Alkohol in ungesunden Mengen frönt, hat sich gegen ihren Ehemann John Cairncross entschieden. Der Vater des Fötus' ist ein idealistischer, feingeistiger Lyriker und Kleinverleger. Das genaue Gegenteil verkörpert Johns Bruder Claude (Claudius): der hemdsärmelige Immobilienmakler fällt nicht durch Geistesblitze, sondern eher durch Leistungsfähigkeit unterhalb der Gürtellinie auf.
Nicht ins Ohr, in den Smoothie
Vater John ist seinem Bruder und seiner Frau nicht nur im Weg, sondern sie haben es auch auf seinen kapitalen Besitz abgesehen. Ihm gehört eine herunter gekommene Londoner Immobilie, die allerdings durch ihre exponierte Lage millionenschwer geworden ist. Nicht ins Ohr, sondern in einen Smoothie soll das Gift geträufelt werden.
„Ich kenne mich mit Mord noch nicht gut aus“, resümiert der Fötus gleichermaßen betrübt wie verzweifelt. Ian McEwan erzählt, wie sich der ungeborene Sohn die Welt vorstellt. Das ist ebenso kühn wie reizvoll, wenn sich jemand aus Gehörtem und der eigenen Fantasie etwas zusammen reimt. Der Fötus kommt wie ein altkluger, kommentierender Alltagsphilosoph daher und erinnert ein wenig an Grass' Blechtrommler Oskar Matzerath. Wäre er schon unter den Lebenden würde man ihn wahrscheinlich einen notorischen Besserwisser nennen, denn er sinniert im Mutterleib über die drohende Erderwärmung, den Islam und die Flüchtlingskrise in Europa. Er befindet darüber, dass die Stimmung „zwischen Mitleid und Furcht, zwischen Einladen und Zurückweisen“ changiere.
Der Fötus ist enorm wissbegierig, hört wahnsinnig gern Nachrichten und tritt nachts die Mutter - als Zeichen dafür, dass sie das Radio einschalten soll: "Grausam, ich weiß, aber am nächsten Morgen waren wir beide besser informiert."
„Nussschale“ ist ein ambitioniertes und verwegenes Spiel mit dem großen literarischen Vorbild. Ian McEwans Roman-Hommage zu Shakespeares 400. Todestag präsentiert uns eine Hauptfigur singulären Zuschnitts. Der Fötus weiß viel, fühlt viel, macht sonderbare Erfahrungen („Wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt“), ist aber im „Gefängnis“ des Mutterleibs zur Passivität verdammt. Hilf- und machtlos leidet er quasi der Geburt entgegen und wird so stummer Zeuge von Verrat und Habgier.
Ein herrliches Lesevergnügen, Pflichtprogramm für literarische Querdenker und all jene, die sich nicht genieren, wenn sie sich bei der Lektüre eines anspruchsvollen Romans auch noch amüsieren können.
Ian McEwan: Nussschale. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2016, 274 Seiten, 22 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.