Große Literatur im Twitter-Format
„Meine Sehnsucht deuten. Verstehen, was mich so von mir trennt. Nirgends zu sein, wo ich bin. Tot gehör ich mir wieder.“ Was Martin Walser seinen Lesern in seinem neuen schmalen Bändchen vorlegt, ist alles andere als leicht verdauliche literarische Kost.
Da gerät man über einzelne Sätze ins Stolpern, löst ein vierzeiliger Aphorismus stundenlanges Grübeln aus. Wie so viele seiner anderen literarischen Figuren hat der beinahe 86-jährige Autor vom Bodensee nun auch seinen Meßmer zum zweiten Mal wieder belebt und zurück auf die literarische Bühne verfrachtet. Nach „Meßmers Gedanken“ (1985) und „Meßmers Reisen“ (2003) nun also die „Momente“ aus dem Blickwinkel einer Figur, die uns weit mehr die Walsersche Gedankenwelt öffnet als all die Halms, Zürns und Dorns aus den opulenten Romanen und die uns schon 1985 mit dem Satz „Hoffentlich sterbe ich weg, bevor ich mir sage, was ich von mir denke“ einigermaßen schockierte.
Herausgekommen ist wie in den beiden Vorgängerwerken eine Sammlung von Notaten, Aphorismen und minimalistisch verknappter Kurzprosa, die sprachlich ausgefeilt bis in die letzte Silbe wirkt und doch mit beinahe archaischer Gewalt auf den Leser einwirkt. Es ist die Schwere der Gedanken und das profunde Reflektieren, das diesem ausgesprochen schlanken Büchlein ein stattliches Gewicht verleiht. „Ich will den Ton hervorbringen, der durch mein Leben entsteht“, hatte Walser vor 28 Jahren im ersten Meßmer-Band geschrieben, und an dieser Intention hat sich bis heute offensichtlich nichts geändert. Walser dringt tief ins eigene Seelenleben ein, schonungslos offen, nicht narzisstisch, sondern durchaus selbstkritisch, bis nahe an den Rand der Selbstverletzung: „Einzig bin ich nicht, aber allein.“
Dieses subjektive Gedankentagebuch, dieses meisterhafte aphoristische Brevier besticht durch seine präzisen Beobachtungen, durch die Klarheit der Gedanken und seine messerscharfen Formulierungen. Die Wiederbegegnung mit Meßmer bereitet trotz der Dominanz einer melancholischen Hintergrundmelodie ein großes Lektürevergnügen – eine anstrengende, aber lohnende intellektuelle Herausforderung.
Angesichts der Gedankenfülle sollte man auch bereit sein, den einen oder anderen Ausrutscher in die Untiefen des Trivialen zu „überfliegen“ – etwa, wenn es heißt: „Ich zu sagen tut weh. Ich bin die dritte Person. Und der ist mit mir per Sie, auch wenn er mich aufdringlich duzt.“
Anders als bei Brechts Keuner-Geschichten, mit denen der erste Meßmer-Band häufig verglichen wurde, geht es Walser nicht um latente pädagogische Botschaften oder um ein (wie auch immer geartetes) ideologisches Sendungsbewusstsein, sondern seine Erkenntnisse, Verwerfungen und kritischen Selbstbefragungen scheinen auch ein gewisses Maß an autotherapeutischer Funktion zu implizieren.
Das liest sich mal erhellend, mal verstörend, mal heiter, mal tieftraurig, mal nüchtern niedergeschrieben, dann auch wieder mit großer pathetischer Geste formuliert – ein Spiegelbild der alltäglichen Schwankungen im Seelenzustand.
Martin Walser pendelt herrlich unentschieden zwischen träneneinflößender Altersschwermut und selbstgefälliger Koketterie, zwischen Suchen und Finden. Sein Meßmer befindet sich immer noch auf großer (Selbst)-Erkundungsreise: „Wo bin ich? Ich kann mich nicht finden. Es ist, als wäre ich mir endlich entkommen.“
Wie oft ist Martin Walser, der uns zuletzt die beiden großen Romane „Muttersohn“ (2011) und „Das dreizehnte Kapitel“ (2012) vorgelegt hat, in der Vergangenheit für seine biedere, leicht antiquierte Erzählweise und seine konservative Weltsicht in seinen Romanen (nicht immer ganz zu recht) gescholten worden! Und jetzt begegnen wir einem Autor von Mitte achtzig, der zornig, bissig, ja beinahe rebellisch den Lauf der Dinge und sich selbst hinterfragt. Eine Pflichtlektüre für Querdenker aller Generationen, ein kleiner Band mit großer Lebensweisheit.
„Meßmers Momente“ sind meisterlich inszenierte philosophische Shortcuts – kurz: großes Gedankenkino. Und der bekennende Traditionalist Walser befindet sich (wenn auch wahrscheinlich widerwillig) voll im Trend: Das ist große Literatur im Twitter-Format.
Martin Walser: Meßmers Momente. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, 103 Seiten, 14,95 Euro
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Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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