„Unsichtbare Tinte“ - der neue Roman von Nobelpreisträger Patrick Modiano
Graben im Gedächtnis

„Ich habe mich nie an eine chronologische Reihenfolge gehalten. Sie hat für mich nie existiert.“ So treffend hat der französische Schriftsteller Patrick Modiano vor einigen Jahren sein eigenes Schreiben charakterisiert, das wie ein unendlicher Erinnerungs- und Assoziationsprozess auf den Leser wirkt.

Als Modiano 2014 etwas überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, hatte die Stockholmer Akademie ihn gerühmt „für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“
Seine jüdische Identität, Frankreichs Rolle während des Zweiten Weltkriegs (zwischen Kollaborateuren und der Résistance) und die mannigfaltig variierten Paris-Bilder sind wiederkehrende Sujets im Oeuvre des in Boulogne-Billancourt bei Paris als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborenen Schriftstellers.
Der neue Roman des inzwischen 75-jährigen Autors dreht sich um die Privatsphäre eines gewissen Jean (so hieß auch der Protagonist in Modianos letztem Roman „Gräser der Nacht“, 2014), der als junger Mann in einer Detektei gearbeitet hat und mit dem spurlosen Verschwinden einer Frau namens Noëlle Lefebvre betraut war. Von der Frau lag nicht viel mehr vor als eine Ausweiskarte zur Abholung ihrer Post.
Es vergehen rund drei Jahrzehnte, ehe Jean wieder auf die alten Aufzeichnungen über die verschwundene Frau stößt. Mit jeder Annäherung an Personen, die Noëlle kannten, verschwimmt das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Kann man den Zeugen überhaupt trauen, geht es Jean durch den Kopf.
In den Gedankenspielen des Protagonisten dreht es sich um die Suche nach ewigem Glück, nach einem Partner, der einem imaginierten Idealbild entspricht. Hochartifizielles Kopfkino inszeniert Modiano - immer inspiriert, ja geradezu getrieben von der Frage nach der Wahrhaftigkeit von Erinnerungen.
„Erinnerungen kommen mit dem Kritzeln der Feder. Man darf sie nicht erzwingen, sondern muss einfach schreiben und dabei so wenig wie möglich streichen. Und im ununterbrochenen Strom der Wörter und Sätze steigen ein paar Einzelheiten, die man vergessen oder wer weiß warum in der Tiefe des Gedächtnisses vergraben hat, allmählich wieder an die Oberfläche“, lässt Modiano seine Hauptfigur resümieren.
Jean rekonstruiert bei seiner sonderbaren Suche nach Noëlle vor allem auch sein eigenes Leben, das sich von Tag zu Tag im Rückblick verändert. Das Zusammenspiel von Vergessen und Erinnern wird von Patrick Modiano auf subtile Weise erzählerisch auf die Beine gestellt. Vieles wirkt aus der Zeit gefallen, wie mit einer Patina überzogen: die handschriftlichen Aufzeichnungen zu Noëlle, ihr mit unsichtbarer Tinte geschriebenes Tagebuch, das im Laufe der Jahre in detektivischer Puzzlearbeit zu dechiffrieren ist, Notizbücher, Zettel, Briefe, Fotoalben und Festnetztelefonnummern. Das ist poetische, leicht melancholische Erinnerungsprosa erster Güte – so geschrieben, als sei eine Träne im Augenwinkel Dauergast bei Modiano.
Was lässt man selbst als Erinnerung gelten? Und was will man „getilgt“ wissen? Um diese spannenden Fragen kreist nicht nur Modianos neuer Roman „Unsichtbare Tinte“. Es ist so etwas wie sein Lebensthema.
Auf der letzten Seite entfacht Modiano noch einmal den gesamten Glanz und Zauber seiner absolut singulären Erinnerungskunst: „Und wenn man glaubt, man habe sie vergessen, genügt es, dass man eines Tages wieder nebeneinander sitzt und ihr Gesicht im Profil betrachtet, dann erinnert man sich.“

Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2021, 142 Seiten, 19 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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