Ulrike Draesners Roman „Die Verwandelten“
Gebrochene Lebenswege
Gebrochene Lebenswege stehen im Mittelpunkt von Ulrike Draesners neuem Roman „Die Verwandelten“. Über mehrere Generationen hinweg versucht die 61-jährige Schriftstellerin die biografischen Scherben ihrer weiblichen Figuren wieder zusammenzusetzen und deren wahre Identität zu rekonstruieren.
Kurz vor diesem Roman war im Januar der Band „hell und hörig“ mit gesammelten Gedichten aus den letzten 25 Jahren von Ulrike Draesner erschienen. Gut zu wissen, denn diese Autorin vermag ihrer düsteren Romanhandlung mittels ihrer feinen Sprachkomposition und durch ihre lyrischen Bilder ein wenig die Tristesse zu nehmen.
Zu Beginn der Handlung reist die Juristin Kinga Schücking, spezialisiert auf Erbrecht, zu einem Vortrag nach Hamburg. Sie ist geschieden und Anfang 60: „Ich war eine Spätmutter, eine Wiederberufseinsteigerin auf Spätmutterbasis, eine Frau, die ihr Kind allein ließ und auf wunderbar glatten Schienen in einem wunderbar glatten Zug zu einem Vortrag fuhr.“ ,Spätmutter' heißt in diesem Fall, sie hat eine noch junge Adoptivtochter, die von allen nur „Flummy“ genannt wird und die ihre Mutter und eine Besucherin mit einer heiklen Frage konfrontiert, als die fremde Donata auftaucht: „Warum siehst du wie Mama aus?“
Schnell erfahren wir, dass im Zentrum dieses großen, unterschiedliche Lebenswege rekonstruierenden Romans die Suche nach den biografischen Wurzeln steht. Verwandte, die durch Adoptionen (vor allem auch durch Zwangsadoptionen während der NS-Zeit) aus den Lebenswegen verschwunden sind, nähern sich einander an.
Nach und nach erschließt sich wie ein riesiges Puzzle auch die Vorfahrengeschichte der Juristin Kinga. Ihre Mutter Alissa war von einem stramm nationalsozialistischen Paar adoptiert worden und hatte sich an ihrem Lebensabend in Wroclaw auf die Suche nach ihren schlesischen Wurzeln gemacht und aus dieser Zeit ihrer Tochter eine Wohnung vererbt.
Wie eine Archäologin fügt Autorin Ulrike Draesner nach und nach biografische Fragmente zusammen. Es taucht eine Polin namens Walla Dombrowska auf, eine Stiefschwester von Alissas Mutter, die einst Renate (Reni) hieß und am Kriegsende vor den heranrückenden Russen mit ihrer Mutter aus Breslau Richtung Westen geflohen ist und unsägliche körperliche Gewalt erdulden musste.
Was Krieg, Flucht und Vertreibung mit Menschen macht, hat Ulrike Draesner mit sanfter, ja mitfühlender Stimme in ihren Roman einfließen lassen. Aus spezieller Frauensicht ist so auch eine deutsch-polnische Familiengeschichte über drei Generationen hinweg entstanden. Die Autorin wechselt dafür auch die Erzählperspektive und die Zeitebenen. „Ich war Walla, Reni ein Teil meines Körpers mit den Narben und der deutschen Stimme, umschlossen von einer starken polnischen Frau“, resümiert Alissas Stiefschwester, die nach Kriegsende zurück nach Breslau gegangen ist, das fortan Wroclaw hieß, dort eine neue Identität annahm, viele Jahre einen Kiosk betrieb und Mutter von vier Kindern war.
Mütter und Töchter, denen der Lauf der Geschichte übel mitgespielt hat und die in ihren Familien „kleine Geheimnisse“ bewahrten, haben die Suche nach ihrer Identität zur Lebensaufgabe gemacht. Ein schmerzhafter, einschneidender Prozess, der hier durch wechselnde politische Systeme, durch den Wechsel der Kultur und Sprache in Breslau und von Animositäten zwischen Polen und Deutschen begleitet wurde.
Als positiven Energiespender, als einen Strom der inneren Balance hat Ulrike Draesner die durch Wroclaw (Breslau) fließende Oder in ihren Erzählfluss eingebunden: „Die Oder war unser Glück. Sie zeigte uns, wie man sich anschmiegte, mit etwas floss. So wurden wir nicht zu Stein. Steine wurden zerrieben.“
Dieses große, empathische literarische Geschichtsbuch, diese so einfühlsame biografische Puzzlearbeit über das Schweigen und Verschweigen in den Familien bezieht seine Strahlkraft aus Ulrike Draesners großer sprachlicher Virtuosität. Sie beherrscht die Naturmetaphorik ebenso wie die lakonische Präzision: „Gebrochen gesprochene Sprachen. Weitergegebene Schamsprachen. Weitergegebene Angstsprachen. Nicht bewusst weitergegebene Erinnerungen“, heißt es in der Mitte des Romans so treffend.
Das klingt hart, das klingt bedrohlich und lässt an viele zerbrochene Seelen denken. Aber Ulrike Draesners letzter Satz des Romans klingt beinahe versöhnlich und wie eine latente Botschaft: „Wenn jemand spricht, wird es hell.“
Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman. Penguin Verlag, München 2023, 601 Seiten, 26 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.