Mareike Krügels Roman „Schwester“
Fifty ways to leave your lover
„Sie brauchte einen Moment ganz ohne Informationen und Eindrücke, sonst würde es passieren, hier und jetzt, es würde das passieren, was sie immer schon befürchtet hatte: Sie würde verrückt werden“, geht es Iulia durch den Kopf, eine der Hauptfiguren im neuen Roman der 44-jährigen, in Schleswig-Holstein lebenden Schriftstellerin Mareike Krügel, die 2017 mit ihrem Roman „Sieh mich an“ auf beachtliche Resonanz gestoßen war.
Krügel hat ihren vielschichtigen Roman in jener Gegend angesiedelt, die sie aus eigenem Erleben aus dem Eff-Eff kennt – die von riesigen Maisfeldern eingerahmten Dörfer entlang der Schlei. Dort führt die Bankkauffrau Iulia ein wenig freudvolles Leben an der Seite des Dorfpastors Niels und des gemeinsamen Sohnes im Teenageralter.
Eine stumme Spießigkeit prägt hier den Alltag, wo der Pastor beinahe wie ein Heiliger verehrt wird. Julia fühlt sich in diesem Mikrokosmos der Kleingeistigkeit wie gefesselt, alles muss eine gewisse Ordnung haben – ähnlich wie bei ihrem Job in der Bank. Seelisches Unwohlsein macht sich bei ihr breit: „Pastorenfrauen saßen in der ersten Reihe, viele Menschen starrten ihnen auf den Hinterkopf, und ihrer sah jedenfalls nur mit frisch gewaschenem Haar wirklich ordentlich aus."
Ein Telefongespräch mit dem Vater sorgt für eine abrupte Zäsur in Iulias Leben. Sie erfährt, dass ihre ältere Stiefschwester Lone, eine selbständige Hebamme, nach einem Unfall im Koma liegt. Seit Jugendtagen sind die Schwestern durch die Musik von Simon and Garfunkel – wie durch ein unsichtbares Band – miteinander verbunden. Als Iulia Lones Wohnung betritt, findet sie eine leere CD-Hülle des Duos.
Etliche Kapitel-Überschriften in Mareike Krügels Roman sind Songs von Simon and Garfunkel entlehnt – beginnend mit „Mrs. Robinson“ bis hin zu „Late in the evening“. Die Affinität zu den Schöpfern von „The boxer“ geht auf Krügels Jugend zurück, als sie diese Leidenschaft mit ihrem vor einigen Jahren gestorbenen Bruder Kay teilte, dem sie diesen Roman gewidmet hat.
Messerscharf beobachtet
Mareike Krügel, die von der „therapeutischen Funktion“ des Singens überzeugt ist, erzählt ihren Roman in einer flotten, aber unaufgeregten Sprache. Humorvoll-groteske Sequenzen über das Leben auf dem Dorf scheinen Krügels messerscharfer Beobachtungsgabe geschuldet zu sein.
Iulia eignet sich immer stärker Lones Alltag an, probt einen zaghaften Rollentausch und beginnt, die Frauen, die ihre Schwester vor dem Unfall betreut hatte, zu besuchen.
Der Roman „Schwester“ kreist um die Themen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, es geht um den immer noch schwierigen Spagat von Frauen zwischen Beruf und Familie, um klassische Rollenbilder und nicht zuletzt um den sehr „speziellen“ Alltag von Frauen auf dem Land.
Mareike Krügel, deren Werke immer stärker an die besten Romane der 2015 verstorbenen Gabriele Wohmann erinnern, kratzt deutlich spürbar an der gut bürgerlichen Fassade der beschriebenen Familie. Sie arbeitet dabei nicht mit dem brachialen Abbruchhammer, sondern geht feinfühlig mit Glacéhandschuhen vor. Die kleinen Katastrophen und die unausgesprochenen Sehnsüchte schweben leitmotivisch über den Zeilen. Ein kluges Buch ohne Ratgeberhabitus, denn es lässt viele Möglichkeiten offen – ganz im Sinne des Simon and Garfunkel-Songs „Fifty ways to leave your lover“
Mareike Krügel: Schwester. Roman. Piper Verlag, München 2021, 328 Seiten, 22 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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