John Irvings Roman „Der letzte Sessellift“
Essenz des Lebenswerkes

„Ich wollte nicht Schriftsteller sein wegen eines Langweilers wie Ernest Hemingway. Ich wollte Schriftsteller sein wegen Hardy, Dickens, Melville“, hatte der amerikanische Schriftsteller John Irving einmal in einem Interview bekannt. Typisch für ihn – etwas provozierend und abseits des Mainstreams.
So hat der 81-jährige, inzwischen in Toronto lebende Irving auch immer geschrieben. Seine 15 Romane, in denen gesellschaftliche Außenseiter (oftmals mit ausschweifendem Sexualleben) im Mittelpunkt standen, wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, mindestens die Hälfte davon waren weltweite Bestseller. Doch John Irvings Lebensbilanz fällt keineswegs positiv aus. Er hadert damit, dass ihm in seiner amerikanischen Heimat nicht die ganz große Aufmerksamkeit zuteil wird, und dass er sich wegen seiner kritischen Positionen zum Vietnamkrieg und zur Abtreibung sogar heftiger Anfeindungen ausgesetzt sah. „In Europa sind Schriftsteller wichtig und werden zur Lage im Land und in der Welt gefragt, weil erwartet wird, dass sie eine Meinung haben“, bemerkte er einmal mit neidvollem Unterton.
Im nun vorliegenden, äußerst opulenten Roman breitet Irving einen Erzählbogen über sechs Jahrzehnte aus. Wir durchleiden den Lebensweg des vaterlos aufgewachsenen Adam Brewster von seiner Geburt in den frühen 1940er Jahren bis ins hohe Alter – angereichert mit realen Feindbildern wie Ronald Reagan und Donald Trump.
Adam, der später ein erfolgreicher Autor wird und wie Irving selbst einen Oscar für das beste Drehbuch erhält, wächst bei seiner Großmutter Nana auf. Mutter Rachel fühlt sich zu den Skipisten und ihrer Geliebten Molly hingezogen. Adam stellt immer wieder Fragen nach ihrer Vergangenheit und stößt lange Zeit auf eine Mauer des Schweigens.
Rachel heiratet (trotz ihrer Affinität zur gleichgeschlechtlichen Liebe) den nur 1,45 Meter großen, kauzigen Englischlehrer Elliot Barlow, der nachts in Frauenkleidern um die Häuser streicht. Eine Außenseiterfigur, die an Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“ erinnert. Kein Wunder, denn Irving und Grass waren befreundet, und der Amerikaner hielt sogar nach Grass' Tod in Lübeck die Trauerrede.
Die Heirat zwischen Little Ray (so wird Rachel genannt) und Elliot ist eine Farce; sie sind in der Provinz streng beäugte und missachtete Außenseiter. „New Hampshire ist ein Land der sexuellen Intoleranz", heißt es im Text. Wenn Mutter Rachel mal nicht in den Bergen weilt und daheim ist, schläft sie ganz selbstverständlich bei Adam im Bett, auch noch, als der Sohn schon in die Pubertät kommt.
Das Brechen von gesellschaftlichen Konventionen, das ungezügelte Ausleben von sexuellen Orientierungen abseits der Normen, ein von Angst, Hass und Verzweiflung geprägter Alltag am Rand der Gesellschaft prägt die Atmosphäre dieses opulenten Opus'. Es gibt Morde und Selbstmorde, Irvings düsteres Gesellschaftsbild kommt wie ein Fortsetzungsfilm mit immer neuen dramatisch-skurrilen Episoden daher. Die Gefühle changieren bei der Lektüre zwischen Gänsehaut und Lachattacken. So etwa, als Adams dementer Großvater nur in Windeln vom Blitz erschlagen wird.
Adam Brewster ist ein erstaunlich passiver Protagonist, ein leidenschaftlicher und aufmerksamer Beobachter. Vieles aus seinem Leben glaubt man bereits zu kennen, so oder so ähnlich schon einmal bei Irving gelesen zu haben: Seine Vorlieben für Charles Dickens und Österreich, seine Affinität zum Sport (Irving selbst war in jungen Jahren erfolgreicher Ringer), das wechselvolle Leben eines Erfolgsautors, die Probleme alleinerziehender Mütter, die mit den Schatten der abwesenden, oft unbekannten Väter zu kämpfen haben, diffizile Mutter-Sohn-Beziehungen und nicht zuletzt die sexuelle „Andersartigkeit“. Das sind wiederkehrende Sujets bei John Irving, aber diesmal so konzentriert und so detailreich ausgebreitet, als hätte uns der Autor an seinem Lebensabend noch einmal eine Essenz aus seinem Gesamtwerk vorlegen wollen.
„Das Schreiben wird leichter, wenn es die einzige Arbeit ist. Man wird anspruchsvoller, konzentrierter - man kann langsamer und sorgfältiger schreiben“, hatte Irving im letzten Jahr in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag über altersbedingte Veränderungen in seinem Schreiben erklärt.
Es geht aber auch um die spannende These, dass die nicht gedrehten Filme und die nicht geschriebenen Romane die wichtigsten Werke seien. Wirft sich sogleich die Frage auf, ob „Der letzte Sessellift“ doch noch nicht (wie von Irving angekündigt) der letzte Roman war.
Ein Buch wie ein Felsbrocken – frech und provozierend, etwas ausschweifend, aber nie langatmig, mal humorvoll, mal gnadenlos sezierend. Ein Roman zwischen lachen und weinen. Ein typischer Irving eben - und wahrscheinlich der beste aller Zeiten.

(erscheint am 24. April)
John Irving: Der letzte Sessellift. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2023, 1080 Seiten, 36 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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