Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“
Er musste Filme drehen
Schon vor der Veröffentlichung hatte dieser Roman einen wahren Hype ausgelöst. Mit Superlativen wurde dabei nicht gegeizt. Das vehemente Rühren der Werbetrommel hält auch auf dem Büchermarkt immer mehr Einzug.
Erinnern wir uns zurück. Schon 2005 hatte sich der heute 48-jährige Daniel Kehlmann in seinem Weltbestseller „Die Vermessung der Welt“ an Lebensläufen realer historischer Figuren abgearbeitet – damals waren es Alexander von Humboldt (1769-1855) und Carl-Friedrich Gauß (1777-1855), zwei deutsche Genies, die in ihren Wesen kaum unterschiedlicher hätten sein können und die im frühen 19. Jahrhundert zu Weltruhm gelangten. Was er damals vorlegte, war eine Mischung aus einem belegten Faktengerüst und einer gehörigen Portion dichterischer Fiktion.
Nach ähnlichem Strickmuster verfährt Kehlmann auch in seinem neuen Roman „Lichtspiel“, in dem der Regisseur Georg Wilhelm Pabst (1885-1967), der zu Stummfilmzeiten mit Filmen wie „Die Dreigroschenoper“, „Die Büchse der Pandora“, „Die freudlose Gasse“, und „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ (mit der damals noch jungen Schauspielerin Leni Riefenstahl) große Erfolge feierte, im Mittelpunkt steht. Pabsts Leben und Werk gleicht einem aufregenden Zick-Zack-Lauf. In den Anfangsjahren der Nazi-Zeit emigrierte er in die USA, drehte in Hollywood „A Modern Hero“, der aber zum Flopp wurde. Jenseits des Atlantiks konnte sich Pabst – auch wegen seiner mangelnden Englischkenntnisse – aber nicht etablieren und kam zurück.
Dabei war er mit großen Ambitionen Richtung USA gestartet. Treffen mit bekannten Zeitgenossen wie Carl Zuckmayer und Walter Mehring werden beschrieben. Die Flucht aus Nazi-Deutschland war das omnipräsente Thema. Thomas Mann, der ein Visum erhalten hatte, galt als Vorbild. „Das Gespräch stockte. Es war einer jener Momente, in denen alles gesagt scheint, in denen es einem plötzlich vorkommt, als wäre die Gegenwart aufgebraucht und nichts mehr übrig als drohende Zukunft.“
Nach der Rückkehr, die durch eine schwere Erkrankung seiner Mutter forciert wurde, warf sich die für einen Künstler existenzielle Frage der politischen Unterwerfung auf. „Er musste Filme drehen. Nichts anderes wollte er, nichts war wichtiger“, heißt es bei Kehlmann. Dazu gehörte dann in letzter Konsequenz ein Arrangement mit den Nationalsozialisten. Ein Treffen mit Goebbels wird geschildert, bei dem der NS-Propagandachef den Regisseur massiv unter Druck gesetzt haben soll. „Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann", unterbrach der Minister, „zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen."
So entstand das Historiendrama um den legendären Arzt „Paracelsus“. Daniel Kehlmann verfolgt Pabsts Leben und Wirken bis in die 1950er-Jahre – erzählerisch dreigeteilt in die Phasen von Emigration, Rückkehr und Anbiederung an das NS-Regime und Nachkriegszeit. Den Dreharbeiten am Film „Der Fall Molander" hat Kehlmann einen beträchtlichen Raum eingeräumt und gewährt uns dabei einen kenntnisreichen Einblick in das Handwerk des Filmregisseurs – von Kameraeinstellungen über Lichteinflüsse bis zur Schnitt-Technik. Kein Wunder Kehlmanns Vater war Filmregisseur und hat in den 1960er Jahren Joseph Roths „Radetzkymarsch“ in Szene gesetzt. Pabst „Fall Molander“ geht im Krieg verloren, und er zerbricht daran. Viele Jahre später leugnet sein Regieassistent Franz Wilzek in einer Fernsehsendung die Existenz eines solchen Films. Der schmale Grat zwischen Fakten und Fiktion.
Pabsts Frau fühlt sich der Kunst wegen vernachlässigt und sucht Zuflucht im Alkohol. Der gemeinsame Sohn avanciert zum begeisterten Hitlerjugend-Mitglied. Wir werden Zeugen eines aufreibenden Lebens zwischen Kunst und Politik und erleben Pabst dabei als kompromissbereiten Egoisten.
„Ganz ohne Kompromisse gehe es natürlich nicht, sagte Rühmann. Er habe sich von Maria scheiden lassen müssen, sonst hätte er nicht mehr arbeiten können. Er habe ihr dann selbst einen schwedischen Kollegen als neuen Scheinehemann vermittelt, den Rolf. Er überweise den beiden monatlich Geld, Göring habe das Arrangement abgesegnet. So sei allen geholfen: Er könne drehen, Maria sei sicher, Rolf verdiene gut.“
Daniel Kehlmann hat wieder einmal eine enorme Fleißarbeit abgeliefert, hat umfangreich recherchiert und vor der historischen „Kulisse“ spannende Fragen aufgeworfen. In „Lichtspiel“ wimmelt es von Fakten, historischen Figuren, fiktiven Gesprächen, von vielen intelligenten Parallelen, die zur Gegenwart geschlagen werden können, aber die Figuren bleiben farblos (wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film), geradezu blutleer. Sie hängen wie Marionetten an den Erzählfäden des Autors, ohne jedes Eigenleben. In „Lichtspiel“ wird zu viel gedacht und zu wenig gefühlt.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 480 Seiten, 26 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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