Neuer Roman von Haruki Murakami
Die Wahrheit liegt im Wandel

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami liebt das Extreme. Der passionierte Marathonläufer, der noch bis zu seinem 85. Geburtstag laufen möchte, und der erfolgreiche Bestsellerautor haben eines gemeinsam: ihre beneidenswerte Kondition und die Fähigkeit, eigene Grenzen auszuloten. Murakamis normaler Alltag soll morgens um 5 Uhr mit einer Joggingrunde beginnen. Erst danach sei er gerüstet fürs Schreiben. Seinen neuen, in Japan im April 2023 erschienenen Roman hat er während der Corona-Pandemie geschrieben.

„Zu der Zeit haben weder du noch ich einen Namen. Du bist sechzehn, ich siebzehn, die sommerliche Dämmerung, die lebhaften Fantasien im Gras am Flussufer – mehr gibt es nicht“, heißt es zu Beginn des Romans, dessen erzählerischen Bogen aber weit über die Erinnerung an eine Jugendliebe hinaus reicht. Murakamis Ich-Erzähler ist ein Ewig-Suchender, ein unsteter Charakter, der mal die Einsamkeit und mal die Isolation liebt. Es treibt ihn zu der geheimnisvollen Stadt, die von einer gigantischen Mauer umschlossen ist und die nur betreten kann, wer sich seines Schattens entledigt.
Da ist wieder das herzerfrischende, aus vielen Vorgängerwerken bekannte surreale Faible des Autors, und man denkt beinahe zwangsläufig an Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihl“, der einst seinen Schatten verkaufte. „Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer“, erfährt der Protagonist von dem jungen Mädchen. Murakamis männliche Hauptfigur begibt sich auf die Suche, sehnt ein Wiedersehen herbei, streunt (ein wenig an Odysseus erinnernd) durch die Stadt und landet schließlich in einer geheimnisvollen Bibliothek.
Der Ich-Erzähler sucht nicht nur das Mädchen, sondern in den Büchern auch nach so etwas wie dem „Sinn des Lebens“. Auch in der späteren Zeit außerhalb der ummauerten Stadt dreht sich vieles um Bücher. Der Protagonist arbeitet in einem Buchhandel und in einer Bibliothek – aber stets kreisen seine Erinnerungen um das Mädchen und die mysteriöse Stadt.
Haruki Murakami, dessen Werke in rund 50 Sprachen übersetzt wurden (allein 6,5 Millionen verkaufte Exemplare in deutscher Übersetzung), spielt mit seinen Figuren, mit deren Marotten und Seelenschmerz. Auch viele Nebenfiguren agieren völlig unkonventionell. „Wenn ich einen Rock trage, fühle ich mich wie die Zeilen eines schönen Gedichts“, bemerkt ein Herr Koyasu, dem der Protagonist bei seiner Arbeit in der Bibliothek begegnet. Mit viel Liebe zum Detail beschreibt Murakami in dieser Sequenz das beinahe rituelle Zubereiten eines Tees. Und doch bleibt auch diese Begegnung rätselhaft: „Herr Koyasu war mir äußerst sympathisch, und ich glaube, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Dennoch blieb unser Austausch stets auf offizielle Belange beschränkt.“
Es ist wieder einmal ein Roman, der geradezu spielerisch zwischen Heiterkeit und Ernst changiert und den Leser geradezu sogartig durch die Handlung zieht. „Eine Welle von Verwirrung und Verlegenheit hatte alle anderen Gefühle oder zumindest die Logik zeitweise verdrängt“, hatte Murakami (es klingt wie ein Selbstzeugnis) im Band „Erste Person Singular“ (2021) geschrieben.
In den letzten Jahren wurde Haruki Murakami regelmäßig als heißer Kandidat auf den Literatur-Nobelpreis gehandelt. „Ein Literaturpreis kann ein bestimmtes Werk ins Rampenlicht rücken, aber ihm Leben einzuhauchen, vermag er nicht“, hatte Murakami im Zusammenhang mit dem Nobelpreis bekundet. Im deutschen Sprachraum erfreut er sich schon seit dem Sommer 2000 großer Popularität. Damals war es im „Literarischen Quartett“ des ZDF über Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“ zum öffentlichen Zerwürfnis zwischen dem verstorbenen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler gekommen. Reich-Ranicki hatte einen „hocherotischen Roman“ gelesen, und seine Wiener Kollegin sprach von „trivialer Pornographie“. Fortan waren die in deutscher Übersetzung erschienenen (und neuaufgelegten) Werke von Murakami echte Verkaufsschlager: „Wilde Schafsjagd“ (1991), „Hard-Boiled Wonderland“ (1995), „Tanz mit dem Schafsmann“ (2002), „1Q84“ (2010) und „Die Ermordung des Commendatore (2017)
Murakami, der am 12. Januar 1949 als Sohn eines buddhistischen Priesters in Kyoto geboren wurde, studierte Theaterwissenschaft, arbeitete in einem Plattenladen und als Geschäftsführer einer Jazzbar, ehe er den Weg zur Literatur fand – nach eigenem Bekunden stark beeinflusst von seinen Vorbildern Kafka und Dostojewski. Auch als Übersetzer (u.a. Scott Fitzgerald, John Irving, Raymond Chandler) hat sich der begeisterte Marathonläufer in Japan einen Namen gemacht.
„Die Wahrheit liegt nicht im unveränderlichen Stillstand, sondern im steten Wandel. Das ist das Wesen des Erzählens, wie ich es sehe“, heißt es im Nachwort des neuen Romans „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, in dem sich Murakami wieder einmal als spielerischer, erzählerischer Dompteur seiner liebenswerten Außenseiterfiguren präsentiert – ein Meister der humorvollen Strenge.

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2024, 636 Seiten, 34 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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