Ingo Schulzes großartiger Roman „Die rechtschaffenen Mörder“
Die Verwandlung des Antiquars

Was machen Bücher mit uns? Sind sie für uns ein Leitfaden, eine Inspiration, vielleicht sogar ein Fundament, auf dem man sein Leben einrichten kann? Oder können sie uns auch in die Irre leiten? Diese und ähnlich spannende Fragen stellt Erfolgsautor Ingo Schulze, der erzählerische Seismograf für das Nachwende-Lebensgefühl im Osten der Republik, in seinem neuen – um es gleich vorweg zu nehmen – grandiosen Roman.

Auf drei Erzählebenen berichtet der 57-Jährige Schulze über den Antiquar Norbert Paulini, der 1977 im Dresdner Stadtteil Blasewitz ein kleines, aber durchaus renommiertes Lädchen für kostbare Literatur eröffnet hat.
Das Antiquariat war viele Jahre Treffpunkt von Dissidenten, die sich mit Bloch, Benn, Kafka und auch Ernst Jünger auseinander setzten. Der Hausherr pflegte eine Affinität zur „schweren“ Lesekost, zu Hölderlin und vor allem zu Nietzsche. Das in Schulzes für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman beschriebene Ambiente gleicht keineswegs zufällig den Schauplätzen von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“.
Auf der zweiten Erzählebene begegnen wir einem Schriftsteller namens „Schultze“, der dem Autor nicht unähnlich ist und der auf Paulinis Leben, das mit der politischen Wende eine gravierende Zäsur erfuhr, seinen rätselhaften Tod und eine tragische Liebesgeschichte zurück blickt.
Im schmalen abschließenden Teil hat eine aus Westdeutschland stammende Lektorin Schultzes Manuskript über Paulini in den Händen, dreht alles noch einmal gedanklich durch den Wolf, versieht es mit kommentierenden Anmerkungen und macht uns mit der Möglichkeit vertraut, dass der Schriftsteller Paulini getötet haben könnte. Mit Hilfe dieser kompositorischen Dreiteilung legt Schulze viele falsche Fährten aus, spielt mit biografischen Konjunktiven und eröffnet dem Leser auf diese Weise höchst unterschiedliche Blickwinkel auf Paulinis Leben.
Es geht um die schleichende Verwandlung des Antiquars, eines zunächst durch und durch tugendhaften Zeitgenossen, der mit sich im Einklang viele Jahre ein „glückliches“ Leben in einer Welt aus Büchern führte.
Die Bücher sind sein Lebensinhalt, das Lesen wird beinahe zur rituellen Selbst-Zelebrierung, zur existenziellen Handlung – es geht Paulini lange Zeit mehr um das Verschwinden, das Eintauchen in eine andere Welt als um den Inhalt zwischen den Buchdeckeln.
Die politische Wende wird zur harten Zäsur, nicht nur wirtschaftlich. „Wenn schon jeder auf mich Jagd machen darf, dann nehme ich mir die Freiheit und mache auch ein bisschen Jagd. Für die Freiheit, für das Glück der Deutschen." Seine Ehe zerbricht, später erfährt er, dass seine Frau Rosa der Stasi Infos über die Samstags-Treffen im Antiquariat zukommen ließ. Plötzlich ist der Antiquar in der realen Welt angekommen, und es fühlt sich an wie eine Notlandung aus großer Höhe. Seine Wohlfühl-Lebens-Nische ist zerstört, er muss seinen geliebten Laden aufgeben und verdient einige Zeit seinen Lebensunterhalt als Nachtportier. Später zieht er sich ins Elbsandsteingebirge zurück und (wenn man es „platt“ mag) übersiedelt mit Vehemenz vom linken an den äußerst rechten politische „Rand“. Der einstige Dissident wird zum strammen Pegida-Anhänger.
Das Aufkommen und Erstarken der rechtsnationalen Kräfte, die offene Ausländerfeindlichkeit, die stetig wachsende Gewaltbereitschaft und Intoleranz, die totale Veränderung eines Individuums durch gesellschaftliche Zäsuren, das Erschaffen von Feindbildern und die ganz zentrale Frage nach dem Spagat zwischen Moral und Kunst: dies alles steckt in Ingo Schulzes autobiografisch unterfüttertem Künstlerroman über die bürgerlich-akademische Schickeria Dresdens.
Dieser Roman ist wunderbar altmodisch erzählt (man glaubt einen zeitgenössischen Kleist in Händen zu halten) – ein Buch, ganz leicht und verspielt und doch so schwierig, so vielschichtig, dass man es am liebsten mit einem Dutzend Freunden in einem Salon nächtelang ausdiskutieren möchte. „Solange Herr Paulini lebte, waren wir geschützt. Seit seinem Tod steht alles in Frage“, heißt es auf der vorletzten Seite. Ja, und so geht es auch mit diesem großartigen Roman um den bis zum Ende rätselhaften Protagonisten Paulini. Er wühlt uns auf, stellt beinahe alles in Frage und lässt uns ratlos zurück. Das schafft nur ganz große Literatur.

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020, 318 Seiten, 21 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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