Mario Vargas Llosas' letzter Roman
Die Kraft der Musik

"Die Musik hatte die Seelen der Anwesenden so fest in ihren Bann gezogen, dass jeder soziale, ethnische, intellektuelle oder politische Unterschied in den Hintergrund trat. Der Innenhof des Hauses war wie elektrisiert von einer Welle des Miteinanders, es herrschte das Wohlwollen, die Liebe“, heißt es im letzten Roman des bedeutenden peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa.

Er werde nur noch ein Buch über sein großes dichterisches Vorbild Jean-Paul Sartre beenden, verriet er im Nachwort des neuen Romans. Dann soll endgültig Schluss sein, so der 88-jährige Schriftsteller, der auf ein gewaltiges Oeuvre zurück blicken kann.
Vargas Llosa hat mehr als 70 Ehrendoktorhüte bekommen, unzählige Literaturpreise entgegen gekommen und war in seinem Heimatland Peru sogar einmal zur Präsidentenwahl angetreten. Der Schriftsteller, der seit 2015 mit der Ex-Frau von Julio Iglesias liiert ist und in Madrid lebt, ist ein Mann der absoluten Superlative. Jede Buchneuvorstellung wurde in der spanischsprachigen Welt als „Event“ zelebriert. Und jetzt ist wirklich Schluss? Man mag es nicht glauben. Für seine „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder individuellen Widerstands“, hatte ihm das Stockholmer Nobelpreiskomitee 2010 die mit umgerechnet rund 1,1 Millionen Euro dotierte wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zugesprochen.
Vargas Llosa kehrt nun zu seinen literarischen Wurzeln zurück. Der Roman spielt in den unruhigen 1990er Jahren, als die Untergrundkämpfer des Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) Peru terrorisierten. Es schließt sich damit (zumindest geografisch) ein literarischer Kreis, denn in seinem ersten bedeutenden Werk, den in mehr als 20 Sprachen übersetzten Roman „Die Stadt der Hunde“ (1963), hatte Vargas Llosa seine Erfahrungen in der Kadettenanstalt von Lima verarbeitet.
Im Mittelpunkt des neues Romans steht der leidlich erfolgreiche Musikjournalist Toño Azpilcueta, der sich selbst für einen „proletarischen Intellektuellen“ hält. Nicht übermäßig begabt, aber ein Mann mit großer Leidenschaft – vor allem, wenn es um peruanische Volksmusik geht.
Irgendwann begegnet er dem völlig unbekannten Gitarristen Lalo Molfino, von dem Toño völlig fasziniert ist und den er für ein noch unentdecktes Genie hält. Er sucht ihn auf, weil er über ihn und seine Musik vor allem über seine Interpretation des peruanischen Walzers schreiben will. Diese Musik erfreut sich in allen gesellschaftlichen Schichten Perus ausgesprochen großer Beliebtheit. Die Begegnung mit Lalo verändert Toños Leben abrupt, ihn spielen zu hören, macht ihn süchtig. Toño setzt alles daran, den Lebensweg des einzelgängerischen, leicht kauzigen Molfino „in Form“ zu bringen.
Mario Vargas Llosa arbeitet mit wechselnden Erzählstimmen. Mal verfolgen wir Protagonist Toño, dann lernen wir Passagen aus dessen Buch über Molfino kennen, und schließlich begegnen wir auch dem begnadeten Essayisten Mario Vargas Llosa, der uns den Vals, den peruanischen Walzer, aber auch die Sängerin und Dichterin Chabuca Grande (deren Werk zum „Kulturerbe“ erklärt wurde) näher bringt.
Toño (und mit ihm ziemlich sicher auch Vargas Llosa) träumt von der friedensstiftenden Wirkung der Musik. Es ist ein Buch über die Verführungskraft der Musik und über die grenzenlose Leidenschaft für die Kunst - en passant auch noch eine erzählerische Kulturgeschichte der peruanischen Musik. Melancholisch und desillusioniert klingt Vargas Llosas Romanstimme. Seine Sehnsucht nach Frieden in Peru lebt er hier mit dem Vals aus.
"Ich glaube, die beste Art, die Übel unserer Zeit zu bekämpfen, besteht darin, Bücher zu verbreiten und die Menschen von einer besseren Welt träumen zu lassen, von einer anderen Welt, in der es weniger Gründe gibt, um unzufrieden zu sein", hatte Vargas Llosa im September 2020 in Berlin erklärt.
Liebe und Kunst, Leidenschaft, die Politik und Peru: Mario Vargas Llosa hat noch einmal seine großen Sujets in seinem letzten Roman zusammen geführt – nicht mehr mit der bekannten und gerühmten bunten, farbenprächtigen Sprache, sondern augenscheinlich geschrieben mit einer Träne im Augenwinkel.

Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 304 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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