Die Heiterkeit des Unerträglichen
"Außer uns spricht niemand über uns" - der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino
"Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte", bekennt der namen- und alterslose Ich-Erzähler im neuen Roman aus der Feder von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und funkt damit auf der gleichen emotionalen Frequenz wie die meisten Protagonisten aus den Vorgängerwerken.
Diese Figuren pendeln stets ein wenig zwischen Flaneur und Streuner, zwischen Müßiggänger und Penner und haben sich einen kommoden Mikrokosmos des Scheiterns eingerichtet. Etwas hilflos, aber nicht wirklich unglücklich arrangieren sie sich mehr oder weniger gut mit dem eigenen Versagen.
Genazinos neuer Protagonist arbeitet als freiberuflicher Sprecher bei einem Radiosender ("eine einzige Frauenverwelkungsanstalt") und moderiert hin und wieder Modenschauen oder andere unbedeutende Kleinveranstaltungen. Schauspieler war sein Berufswunsch, tatsächlich ist er lediglich Regisseur einer gescheiterten Existenz geworden. Er inszeniert nach Kräften seinen eigenen bescheidenen Alltag, eine seltsame Mischung aus quälendem Pflichtprogramm und passiver Dauerbeobachterrolle.
Seine Freundin Carola ist Ende dreißig, vermutlich damit erheblich jünger als die Hauptfigur, arbeitet in einer Spedition und ist deutlich aktiver, eine praktische "Macherin". Über eine gewisse Zeit verspürt sie sogar eine Affinität zu den emotionalen Berg- und Talfahrten des Partners, zu seinem ständigen Changieren zwischen Selbsthass und exaltiertem Narzissmus. Vielleicht sind es aber auch Mutterinstinkte, wie bei vielen voran gegangenen Genazino-Frauenfiguren, die diese Beziehung zunächst halbwegs im Lot halten, denn relativ schnell wird klar: Sie "passten nicht wirklich zusammen". Nach der Trennung gerät ausgerechnet die so stark wirkende Carola völlig aus der Bahn.
Liebenswerte Anti-Helden
Genazinos Radiosprecher ist wieder eine Art Flaneur, ein eigenwillig-verschrobener Zeitgenosse mit gut geschultem Auge, der kleinste Details in Schaufensterauslagen (wie mit einem fotografischen Gedächtnis) festhält. Liebenswert, versponnen, introvertiert und passiv bis nahe an die Grenze zur Apathie, und doch gewinnen diese bisweilen pittoresk gezeichneten Anti-Helden auf kaum zu erklärende Weise die Sympathie der Leser.
Dies mag daran liegen, dass der 73-jährige Wilhelm Genazino seine Figuren - trotz aller Macken und Marotten - niemals der Lächerlichkeit preisgibt. Zum Ende des wieder einmal sehr schlanken Romans wird es dann ungewöhnlich drastisch, zumindest für Genazino-Verhältnisse. Es stinkt und fault allenthalben, ausgefallene Sexualpraktiken und Obdachlosigkeit in ihren erschreckendsten Ausmaßen werden beschrieben.
Die Alltags-Armut und die massenhafte Verwahrlosung der Individuen hat Genazino ungeschminkt dargestellt. Hart und schockierend, aber keineswegs auf Effekte getrimmt. "Mein Leben verwandelte sich mehr und mehr in eine Elegie, an der ich allmählich Gefallen fand", hieß es in Genazinos Vorgängerroman "Bei Regen im Saal" (2014). Und es hätte tatsächlich auch als treffendes Statement über den Radiosprecher gepasst.
"Ich weiß selber keinen richtigen Grund dafür, warum ich jetzt auf einmal Erfolg habe", hatte Wilhelm Genazino 2004 in einem Interview nach Erhalt des Georg-Büchner-Preises erklärt.
Er versucht, unserer Zeit eine Heiterkeit des Unerträglichen abzugewinnen und begegnet der Tragik des Alltags mit der Komik seines ureigenen Blicks auf die Dinge. Dies hat Wilhelm Genazino über viele Jahre und viele Bücher zur Meisterschaft perfektioniert. Und das Büchlein über den "liebesblöden" Radiosprecher aus der "Frauenverwelkungsanstalt" liefert den neuerlichen eindrücklichen Beweis.
Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016, 155 Seiten, 18 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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