Der leere Briefumschlag

Paulus Hochgatterers vorzügliche Erzählung „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“


"Man kann nichts objektiv erkennen, weder sich noch die Welt. Man kann sich ihr nur annähern, wenn man weiß, dass sie doch fern und unbekannt bleibt“, erklärte der Schriftsteller Paulus Hochgatterer kürzlich in einem Interview. Der 56-jährige Niederösterreicher, der im Hauptberuf das Landesklinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln leitet, hat sich künstlerisch stets mit Menschen in Grenzsituationen beschäftigt.

Hochgatterers beruflicher Background ermöglicht tiefe Einblicke in die Untiefen menschlicher Seelen. Nicht oberlehrerhaft-auftrumpfend, sondern äußerst behutsam lässt der Autor seine wissenschaftlichen Kenntnisse in die Texte einfließen.
Die neue, äußerst schmale Erzählung ist in den letzten Kriegstagen auf einem Hof in Niederösterreich angesiedelt. Dort lebt auch die 13-jährige Cornelia (Nelli genannt), seit sie bei einem Bombenangriff ihre Eltern verloren hat. Das Mädchen hat nur vage Erinnerungen, ist stark traumatisiert, aber eine präzise Beobachterin mit einem glasklaren Blick für winzigste Details. Zur Bauernfamilie gehören vier Töchter und der offensichtlich im Krieg verschollene Sohn Leo.
So vage wie Nellis Erinnerungen sind, so vage hat auch Paulus Hochgatterer seine Erzählung arrangiert. Künstlerisch anspruchsvoll lässt er zwei divergierende Erzählstimmen zu Wort kommen: das traumatisierte Mädchen und einen weitgehend emotionslosen auktorialen Erzähler, der Nellis Schilderungen oft (und bewusst) in Frage stellt. Nichts ist hier sicher und verbürgt, der Leser muss sich auf eine anstrengende Tour des konjunktivischen Lesens einlassen.

Lesen im Konjunktiv
Mit knappen, aber äußerst präzisen Worten erzählt Hochgatterer vom Auftauchen des jungen Russen Michail, eines künstlerisch begabten, geflohenen russischen Zwangsarbeiters, der eine verschnürte Leinwand bei sich trägt.
Michail und Nelli freunden sich an in den unruhigen Tagen zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Todesängsten und Friedenssehnsüchten. Aber auch dieser nebulöse emotionale Schwebezustand liest sich aus den beiden Erzählperspektiven höchst unterschiedlich. Was ist Wunschdenken? Was ist Realität?
Richtig dramatisch wird es, als Wehrmachtssoldaten auftauchen, den geflohenen Michail entdecken und exekutieren wollen. „Schämen Sie sich nicht?“, fragt der energisch auftretende Bauer mutig. Wir begegnen ihm später mit einer Schaufel in der Hand. Hat er ein Grab ausgehoben? Hat er den Leutnant erschlagen? War der Großvater tatsächlich ein Held?
Ein leerer Briefumschlag mit einem Wehrmachtsstempel und eine abgesägte Schrotflinte spitzen das Finale dieser furiosen Erzählung zu, die jeder Leser mit seiner Interpretation auf eine gewisse Art und Weise neu (oder weiter) schreibt. „Bei den Schwalben bin ich mir nicht sicher, ob sie Glück bringen oder Unglück", hatte Nelli erklärt. Nichts ist hier sicher – nicht Glück, nicht Unglück, nicht Held, nicht Feigling. Fest steht allerdings: Nur auf der Waage hat dieses kleine, aber doch so geheimnisvoll-rätselhafte Buch das Nachsehen gegenüber opulenten Romanwälzern. Den Namen Paulus Hochgatterer müssen wir uns für die Zukunft merken.

Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war. Erzählung. Deuticke Verlag, 2017, 111 Seiten, 18 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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