Der Eingang zur Hölle

Mareike Krügels Roman „Sieh mich an“


"Ich will nicht sterben, und ich will auch nicht durch diese Tür gehen. Schultüren sind der Eingang zur Hölle. Aber es hilft nichts, meine Tochter braucht mich." Mit diesen dramatisch klingenden Worten ihrer Protagonistin Katharina Theodoroulakis eröffnet die 40-jährige Schriftstellerin Mareike Krügel ihren vierten Roman.

Die Ich-Erzählerin ist Anfang vierzig, lebt mit ihren beiden Kindern nahe der Ostsee (wie die Autorin), während ihr Mann Costas in Berlin als Architekt arbeitet. Mareike Krügels Roman umfasst einen einzigen Tag - einen Freitag, bevor die verunsicherte Hauptfigur zum Arzt gehen will. Ihre elfjährige, hyperaktive Tochter Helena hat in der Schule Nasenbluten, auch der nachmittägliche Reitunterricht verläuft nicht komplikationslos.
Katharina, die Schumann-Liebhaberin, die privaten Musikunterricht erteilt, hat Veränderungen an ihrer linken Brust festgestellt. Ihre Mutter ist einst an Krebs gestorben, die eigene Angst macht sie zur Geheimsache.
Sie versucht, den eigenen Gedanken auszuweichen, sich mit profanen Dingen abzulenken und sich vor allem nichts anmerken zu lassen. Schließlich hat sie die Mutterpflichten zu erfüllen, obwohl sie mit sich selbst nie ins Reine gekommen ist - weder als Ehefrau noch als Mutter oder in ihrem Beruf. Katharina sieht sich stets als Anhängsel anderer Menschen und definiert sich über die Beziehungen zu anderen Personen.
Mareike Krügels Hauptfigur ist völlig desillusioniert. Die Ungewissheit über ihre eigene Gesundheit mündet in selbstquälerischen Reflexionen. Was ist von den einstigen Träumen geblieben, fragt sich Katharina, eine Frau in den besten Jahren, für die das Muttersein offensichtlich zum Maß der Dinge geworden ist.
„Wenn eine wirklich zentrale Person in einer Familie, nämlich die Mutter, herausgenommen würde - was passiert, wie fühlt es sich an? Ich wollte kein Krebsbuch schreiben, sondern ein Familienbuch“, hatte Mareike Krügel kürzlich in einem Interview mit dem NDR erklärt.

Nah am Kitsch
So ganz getraut hat sie dieser Konstruktion offensichtlich aber nicht, denn jener Freitag wird inhaltlich so vollgestopft mit Ereignissen, dass er mindestens 72 Stunden hätte dauern müssen. Katharinas authentische Ängste werden so einigen überflüssigen, den inneren Monolog sprengenden Handlungsschlenkern geopfert. Da gibt es noch eine Begegnung mit einem ehemaligen Studienkollegen, eine spontane Autofahrt von Schleswig-Holstein in die Hauptstadt und die unsägliche Episode mit dem transsexuellen Paar im Nachbarhaus, die mit dem Verlust eines Daumens beim Heimwerken ein blutiges Ende findet.
Das ist wahrhaftig schade, denn Mareike Krügel, die viele tiefgehende und schmerzende Fragen aus Katharinas Perspektive aufgeworfen hat, raubt ihrem Roman damit ein wenig die Seriosität und bewegt sich dadurch unfreiwillig nah an der Grenze zum Kitsch.
Das Ende des Freitags (und somit des Romans) hinterlässt beim Leser höchst ambivalente Gefühle: „Wenn Sterben tatsächlich so ähnlich ist wie Einschlafen, dann brauche ich keine Angst zu haben.“

Mareike Krügel: Sieh mich an. Roman. Piper Verlag, München 2017, 255 Seiten, 20 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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