Juli Zehs höchst aktueller Roman „Über Menschen“
Das Zauberwort „trotzdem“

„Weitermachen. Nicht nachdenken.“ Gleich zweimal finden sich diese markigen Worte auf der ersten Seite von Juli Zehs neuem Roman, der sich ganz nah am Zeitgeist bewegt und dessen Handlung zu Beginn der Corona-Krise im Frühjahr 2020 spielt. Diese zeitliche Nähe und auch das Abarbeiten von landläufigen Klischees ist für einen Roman nicht unproblematisch, aber die routinierte Erfolgsautorin Juli Zeh, die 2002 für ihren inzwischen in 35 Sprachen übersetzten Debütroman "Adler und Engel" den Deutschen Bücherpreis erhalten hatte, ist sich offensichtlich der Risiken bewusst.

Beinahe nebenbei hatte Zeh einst das beste juristische Staatsexamen ihres Jahrgangs im Freistaat Sachsen abgelegt. Die heute 46-jährige, in einem kleinen brandenburgischen Dorf lebende promovierte Juristin hatte zuletzt in ihrem Roman „Neujahr“ (2018) ein Ehepaar mit den beiden Kindern auf einen Weihnachts- und Silvestertrip nach Lanzarote geschickt. Statt lauschigem kanarischen Winter gibt es nun einen turbulenten corona-geprägten Frühling in der Brandenburger Provinz.
Dorthin hat es Dora verschlagen. Die Werbetexterin ist mit ihrer Hündin „Jochen-der-Rochen“ nicht nur aus Berlin, sondern auch aus einer fragilen Beziehung mit dem Journalisten Robert geflohen – ein radikaler Öko-Aktivist, der seine Arbeit von einer höheren Moral inspiriert sieht, der sich aber tatsächlich als penetranter Rechthaber entpuppt und im Roman (durchaus treffend) als "Katastrophen-Seismograph" bezeichnet wird.
„Dora ist kein typischer Großstadtflüchtling. Sie ist nicht hergekommen, um sich mithilfe von Biotomaten zu entschleunigen.“ Sie sucht Abstand von Berlin und von Robert, will in Ruhe an ihrer Werbekampagne für Okö-Jeans arbeiten und ist im fiktiven Dorf Bracken gelandet, wo man über Corona als „größte Volksverarschung“ spricht. Hier kennt jeder jeden. Gut und böse wohnen Zaun an Zaun, die moralisch-charakterlichen Attribute verlieren zunehmend an Schärfe.
Dora verliert ihren Job und muss (der Pandemie geschuldet) viel Zeit im Dorf verbringen. "Ich bin hier der Dorfnazi", stellt sich ihr Nachbar „Gote“ vor, ein kräftiger Mann mit kahlrasiertem Kopf, der mit Freunden am Lagerfeuer das Horst-Wessel-Lied singt und schäbige „Kanackenwitze“ gröhlt. Auf den Ortsnamen Bracken reimen sich tatsächlich allerlei „Unwörter“.
Dort lebt auch noch ein „Seriengriller“ und ein schwuler, oftmals bekiffter Kabarettist, der Dora in Krisenzeiten ein Fahrrad leiht. Das wirkt gleichzeitig putzig und beängstigend. Juli Zeh lässt durch den Gebrauch des Präsens eine beklemmende Nähe entstehen. Man glaubt den Figuren über die Schulter zu schauen.
In Zeiten von Corona und Trump gibt es hier eine Meinungsdiktatur im Großen wie im Kleinen. Nicht faktenorientiertes Wissen, sondern vereinfachende Slogans machen die Runde. Ein aggressiver Pessimismus scheint das Dorfleben zu prägen. Das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land lässt die Autorin überdeutlich aus den Buchseiten heraus schauen.

Konstruiert und allzu versöhnlich

Das ist alles wohl kalkuliert in Szene gesetzt und authentisch beschrieben: das miefige Dorfleben (kennt die Autorin aus eigenem Erleben), die schrägen, teilweise klischeebeladenen Charaktere und deren naives Denken. Aber Juli Zeh verleiht ihrem Roman am Ende eine allzu versöhnliche Note. Bei ihrem „Nazi-Nachbar“, der ihr bei der Wohnungseinrichtung hilfsbereit zur Hand gegangen war und ein Bett gezimmert hatte, wird ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert.
Dora, die intellektuelle Vorzeige-Grüne, die nur mit Baumwolltaschen einkaufen geht, kümmert sich rührend um ihn und seine zehnjährige Tochter Franzi. Vergessen das Horst-Wessel-Lied, die ausländerfeindlichen Witze, und das „Linke klatschen.“
„Das Zauberwort heißt 'trotzdem'. Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Trotz allem liegt da drüben ein Mensch." Diese exponierte Form der Moral, die sich in der Grauzone zwischen Gut und Böse eine kleine (ur-christliche) Nische sucht, wirkt in diesem Handlungskontext nicht nur arg konstruiert, sondern lässt den Leser auch mit einer gehörigen Portion Unbehagen zurück, denn Protagonistin Dora befindet gar: "Es geht nicht darum, wer was verdient hat. Nicht einmal darum, für oder gegen Nazis zu sein.“

Juli Zeh: Über Menschen. Roman. Luchterhand Verlag, München 2021, 412 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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