Philipp Oehmkes Debütroman „Schönwald“
Das große Schweigen in der Familie
Er habe einen Roman schreiben wollen, „den ich auf Deutsch immer lesen wollte, aber nur in der amerikanischen Literatur fand“, bekannte Spiegel-Journalist und Tote-Hosen-Biograf Philipp Oehmke vor Erscheinen seines Romandebüts „Schönwald“. Was der ehemalige New Yorker Spiegel-Korrespondent im Sinn hatte, ist ein Familienroman mit praller gesellschaftspolitischer Hintergrundmusik. Ausschweifend wie Thomas Mann, gesellschaftskritisch wie sein nicht zu verleugnendes Vorbild Jonathan Franzen und stilistisch ganz nah bei Martin Mosebach.
Es geht um die Vergangenheit der Familie Schönwald, um Verstrickungen von Vorfahren mit dem Nazi-Regime, aber auch um kleine und große Geheimnisse der fünf portraitierten Familienmitglieder.
Vater Hans-Harald (genannt „Harry“), die farbloseste Figur in Oehmkes opulentem Familiengemälde, ist ein pensionierter Staatsanwalt, der es mit der ehelichen Treue nicht ganz so genau genommen hat. In den 1960er Jahren hat er Ruth, die Mutter der drei gemeinsamen Kinder kennen gelernt. Eine intelligente, hypersensible Frau, die ihre eigenen beruflichen Ambitionen der Familie wegen geopfert hat. Die Thomas-Mann-Expertin hat unter diesem Verzicht zeitlebens gelitten. Die fehlende gesellschaftliche wie familiäre Anerkennung führt bei ihr im Laufe der Jahre zu einer depressiven Verstimmung, zu handfesten Minderwertigkeitskomplexen und auch zu einer gestörten Selbstwahrnehmung, sah sie sich doch selbst „zeitlebens, gerade was intellektuelle und gesellschaftliche Strömungen betraf, als moderne Frau“ an. In den 1980er Jahren wagt sie einen Ausbruchsversuch, „flieht“ aus dem familiären Umfeld in Köln nach Hamburg. Letztlich erfolglos. Völlig desillusioniert sieht sie sich aller Lebenschancen beraubt.
Diese Form des brachialen Scheiterns gehört zum Konstruktionskonzept des 49-jährigen, in Berlin lebenden Autors Philipp Oehmke – von der ersten bis zur letzten Seite.
Schon der Romaneinstieg hat es in sich. Tochter Karolin hat die Familie zur Eröffnung von „They/Them. Fachbuchhandlung für Queere Literatur“ nach Berlin eingeladen. Linke Aktivisten verüben einen Anschlag, weil sie glauben, dass „Nazigeld“ im Projekt steckt. Es geht um die Vergangenheit der Schönwalds und das beträchtliche Erbe eines Wehrmachtsoffiziers. Dieser durchaus turbulenten Einstiegsepisode liegen die realen Geschehnisse um die queer-feministische Berliner Buchhandlung „she said“ zugrunde.
Da sind die fünf Schönwalds (mit ihren Geheimnissen) einmal wieder beieinander, und prompt wird die Familienzusammenführung von außen durch den Anschlag vehement gestört. Wie ferngesteuert von einer höheren Instanz. Jeder kann nur mutmaßen, was die anderen wirklich wissen. Autor Oehmke hat hier ein verlogenes Versteckspiel inszeniert. Der schöne Schein, das unbefleckte äußere Erscheinungsbild genießt absolute Priorität. Peu à peu erfahren wir in etlichen (manchmal arg ausschweifenden) Handlungsschleifen von den hürdenreichen Lebenswegen der drei Kinder.
Karolin, die Inhaberin des queeren Buchladens, hat sowohl ihre Eltern als auch ihre beiden Brüder über ihre Homosexualität im Unklaren gelassen. Besonders pikant, dass Karolin in der Vergangenheit einige Zeit mit Emilia zusammen lebte - der sehr vermögenden Ehefrau ihres jüngeren Bruders Benni.
Bennis Ehefrau Emilia ist eine völlig orientierungslose Pseudo-Rebellin, die sich aus dem Vermögen ihres Vaters, eines Tech-Milliardärs, der in Amerika erfolgreich war, nichts macht. Das Paar lebt mit zwei Kindern ziemlich zurückgezogen in der Uckermark. Familiäres Glück ist aber auch Benni und Emilia nicht beschieden.
Die schillerndste, weil ambivalenteste Figur ist Christoph, der älteste Schönwald-Sproß. Er deckte einen sexuellen Übergriff seines akademischen Ziehvaters auf und verlor in der Folge seinen Job als Professor an der Columbia University in New York – sein Fachgebiet: französischer Dekonstruktivismus. Er büßte nicht nur den Job ein, sondern verlor dadurch auch die Lebensbalance und rutschte in den Dunstkreis der Trump-Sympathisanten. Der emotionale Reflex eines verletzten Individuums, das sich als Verlierer fühlt und nach einem Ventil für seinen Unmut sucht. Verhaltensmuster, denen wir (leider) in unserem Alltag auch immer häufiger begegnen. Niemand aus der Familie weiß von Christophs Scheitern und schon gar nicht von seiner Trump-Affinität.
Die Story der „Schönwalds“ wirkt an einigen Stellen etwas zu sehr konstruiert wie eine Reißbrett-Zeichnung, aber Philipp Oehmke kann erzählen – und das sogar richtig beeindruckend. Er hat in seiner groß angelegten Familiengeschichte der Verlierer bewusst zugespitzt und alle Figuren ungebremst gegen die Wand laufen lassen. Man ist geneigt, in die Romanrunde zu rufen: Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden. Lügen, Verdrängung, Verschweigen und ausgeprägter Egoismus ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman. Und an einigen Stellen fühlt man sich ertappt – wie beim Blick in einen Spiegel. „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, schrieb Leo Tolstoi einst in „Anna Karenina“. Wie wahr!
Philipp Oehmke: Schönwald. Roman. Piper Verlag, München 2023, 544 Seiten, 26 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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