BUCHTIPP: Intellektueller Extremsport
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 216 Seiten, 21,90 Euro
„Ich will dem betonartigen Realismus entfliehen“, hatte die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff kürzlich in einem Interview im 3 SAT-Magazin „Kulturzeit“ erklärt und gleichzeitig eingeräumt, dass ihr neuer Roman sehr wohl eine Huldigung des bedeutenden Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996) sei.
Um es gleich vorwegzunehmen: Wer eine dem realen Alltag abgelauschte Romanhandlung favorisiert, sollte die Finger von diesem höchst anstrengenden, aber dennoch enorm reizvollen Roman-Gedankenspiel lassen.
Die aktuelle Kleistpreisträgerin hat sich auf ein großes Wagnis eingelassen, denn die reale Figur des Philosophen Hans Blumenberg liegt wie ein tonnenschwerer Schatten über dem Roman. Eine Biografie hat die 57-jährige Autorin nicht im Sinn gehabt, wenngleich sie mit Blumenbergs Tochter Bettina im Vorfeld Kontakt hatte und ihr Romanprotagonist auch unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem einstigen Münsteraner Philosophieprofessor aufweist. Bei Lewitscharoff geht es um die Innenwelt eines großen Denkers, der irgendwo zwischen Erkenntnis, Wirklichkeit, Fantasie und Irrationlität auf eine gewaltige Probe gestellt wird.
Der bekannte Philosoph Blumenberg sitzt eines Nachts an seinem Schreibtisch und spricht in sein Diktiergerät, als er plötzlich einen Löwen im Raum erblickt. Das gewaltige, schon betagte, etwas träge Tier wird zu seinem ständigen Begleiter, bleibt allerdings für andere Menschen unsichtbar. Lediglich mit einer angejahrten Ordensfrau teilt Blumenberg später sein Geheimnis.
Religion und Philosophie, Glaube und Erkenntnis - das waren nicht nur Blumenbergs Steckenpferde, sondern sind auch schon immer bevorzugte Sujets von Sibylle Lewitscharoff gewesen. „Ich bin in einen Hinterhalt gelockt worden, dachte er, man hat mich mit einem fundamentalen Schwindel konfrontiert, um meine geistigen Kräfte zu testen“, sinniert Blumenberg, der sich an etwas abarbeiten muss, was eigentlich nicht sein kann, der aber die Anwesenheit des Löwen mehr und mehr als ein Geschenk von höherer Stelle annimmt.
Auf einer zweiten, etwas näher an der Realität orientierten Erzählebene begegnen wir dem Philosophieprofessor in seinem universitären Umfeld. Dort tummeln sich vier Studenten in Blumenbergs Umfeld, die ihn mehr oder weniger stark anhimmeln. Was dieses Quartett darüber hinaus verbindet, ist ein unsichtbares Schicksalsband. Alle vier sterben sehr jung und auf spektakuläre Weise.
„Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen“, lässt uns Sibylle Lewitscharoff (Foto) mit einem Augenzwinkern wissen. Doch nicht alle humoristischen Brechungen sind in diesem Roman gelungen. „Ihre Gesichter hatten die Farbe eingelegter Artischockenherzen“, heißt es über die Trauergemeinde auf Isas Beerdigung. Über (guten) Geschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten.
Am Ende ist auch der Philosoph Blumenberg tot, liegt an einem Löwen gelehnt im Kreis der toten Studenten - ein Bild von großer Harmonie. Der Protagonist findet so eine adäquate, symbolträchtige Ruhestätte, und die ausgefransten Erzählebenen sind auch kunstvoll wieder zusammengefügt worden.
Wer will bei solch hoch artifiziellem Erzählen nach Wahrheit und Realität fragen, nach Erkenntnis oder Täuschung, nach Glaube oder Mythos? Sibylle Lewitscharoff hat uns zum literarisch-intellektuellen Extremsport außerhalb gängiger Kategorien eingeladen und (nicht zu leugnen) überdies auch eine gewisse Faszination für philosophische Fragen geweckt. Es ist ein reizvolles Spiel mit „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ - so auch der Titel eines lesenswerten Bändchens mit Schriften des realen Hans Blumenberg.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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