BUCHTIPP: Die Schwester des Wunderkindes

"Fenchel" hat der berühmte Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) seine vier Jahre ältere, künstlerische ebenfalls hochbegabte Schwester Fanny genannt, die im Zentrum von Peter Härtlings neuer erzählerischer Biografie steht. Seit mehr als vierzig Jahren widmet sich der heute 77-jährige Autor in seinen Werken mit großer Leidenschaft den Künstlerbiografien.

1964 war der österreichische Dichter Nikolaus Lenau sein Protagonist in "Niembsch oder der Stillstand", 1976 erschien sein vielbeachteter, opulenter Hölderlin-Essay, 1987 setzte er sich in "Waiblingers Augen" mit dem leidvollen Lebensweg des schwäbischen Dichters Wilhelm Waiblinger (ein Freund und Zeitgenosse Mörikes) auseinander, zweimal rückte er den Komponisten Franz Schubert in den Mittelpunkt ("Der Wanderer", 1988, "Schubert", 1992), dann galt sein Interesse Robert Schumann ("Schumanns Schatten", 1996), und zuletzt hatte er sich 2001 in "Hoffmann oder die vielfältige Liebe" dem Dichter ETA Hoffmann gewidmet.
Stets legte Peter Härtling eine Mischung aus historisch verbrieften Fakten und imaginierter Realität vor, eine wohl austarierte Synthese aus Dichtung und Wahrheit, aus Roman, Essay und Reflexionen.
An diesem bewährten formalen Strickmuster hält Härtling auch bei der Schilderung der (mit seinen Worten) "Geschichte einer unglaublich großen Liebe" fest. Fanny (1805-1847), das älteste der vier Mendelssohn-Kinder und Enkel des berühmten Religionsphilosophen Moses Mendelssohn, hat den jüngeren Bruder Felix nicht nur gefördert, sondern geradezu angehimmelt, ihn als frühreifes Wunderkind verehrt. Die musikalisch kaum minderbegabte Fanny, die 1829 den bekannten Berliner Maler Wilhelm Hensel heiratete, kannte keine Neidgefühle und stellte sich gerne in den Schatten ihres Bruders, der mit neun Jahren sein erstes Konzert gab. Die musische Ausbildung und Entwicklung der Kinder war zentraler Bestandteil des Familienlebens, das durch die bekannten "Sonntagskonzerte" im Hause Mendelssohn seine Krönung erfuhr. Bach ist der musikalische Übervater im Hause, Haydn und Mozart folgen mit deutlichem Abstand, doch auch die eigenen Kompositionen der Kinder finden hier eine öffentliche Plattform. Heine, Kleist und Goethe tummeln sich im Dunstkreis der Familie.
Zum Geburtstag des angesehenen Vaters Abraham, der mit einem Schwager in Berlin ein Bankhaus gegründet hatte, wollen die Geschwister zunächst beide ein Lied komponieren. Felix und der Vater sind sich jedoch schnell einig, dass dies nichts für Mädchen sei. Erst als Felix das Elternhaus Richtung England verlässt, blüht Fanny auf, tritt in die "erste Reihe", leitet die Sonntagskonzerte, dirigiert, komponiert und interpretiert virtuos am Klavier.
Peter Härtling hat ein bewegendes Wechselspiel zwischen dem großen künstlerischen Erfolg der Mendelssohns und dem handfestem Antisemitismus, dem sich die Familie ausgesetzt sah, inszeniert. Erzählerisches Zeitzeugnis und artifizielle Künstlerbiografie bewegen sich hier federleicht nebeneinander und bilden eine absolut harmonische Einheit - in Szene gesetzt in der für Härtling typischen ruhigen Sprache, die ohne großes Pathos auskommt.
Da sieht man dann auch generös darüber hinweg, dass die Fanny-Figur unter Peter Härtlings Federstrich vielleicht doch eine Spur zu tugendhaft, zu selbstlos geraten ist und ein klein wenig wie ein Heiligenbild wirkt. Und doch fasziniert Härtling mit seinen Romanbiografien immer wieder aufs Neue. Seine poetischen Annäherungen an Künstler vergangener Epochen sind - bei allem Respekt vor seinen übrigen Werken - die schönsten seiner Bücher, sie vereinen Kunst und Leben, Fiktion und Realität, Historie und Gegenwart auf geradezu einzigartige Weise: zauberhaft und spielerisch.

Peter Härtling: Liebste Fenchel. Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2011, 376 Seiten, 19,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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