Buchtipp der Woche: Wortloser Einklang

Hanns-Josef Ortheil: Liebesnähe. Roman. Luchterhand Verlag. München 2011, 394 Seiten, 21,99 Euro


Aus der Generation der Nachkriegsgeborenen zählt Hanns-Josef Ortheil zu den versiertesten, vielseitigsten und produktivsten Autoren. Vor allem mit seiner sprachgewaltigen, im 18. Jahrhundert angesiedelten Künstler- Romantrilogie hat der gebürtige Kölner Kritik und Leser gleichermaßen fasziniert.

Vieles aus den jüngsten Büchern entstammt Ortheils eigener Vita: das introvertierte Kind, das verstummte und erst im Alter von sieben Jahren richtig zu sprechen begann, das dann ein großes musikalisches Talent offenbarte, aber wegen chronischer Sehnenscheidenbeschwerden die angestrebte Pianistenkarriere aufgeben musste. „In der Einsamkeit des Westerwaldes habe ich auf dem elterlichen Bauernhof meines Vaters das Sprechen gelernt“, erklärte Ortheil in einem Interview. Seine Mutter, die zuvor vier Kinder verloren hatte, war irgendwann verstummt. Und mit drei Jahren stellte auch Ortheil das Sprechen ein. In der Figur des Johannes Catt aus „Die Erfindung des Lebens“ (2009) spiegeln sich die überaus wechselvollen Kinder- und Jugendjahre des Autors, der überdies seit 2003 als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim tätig ist.
„Ich war geradezu besessen davon, in unserer hyperkommunikativen Zeit einen Roman über das Schweigen und die Stille zu schreiben“, berichtet Ortheil über seine Motive für den jüngst erschienenen Roman „Liebesnähe“. Ein Buch, das so ganz und gar nicht in unsere schnellebige Zeit passt und das zudem eine völlig neue Dimension des zeitgenössischen Liebesromans eröffnet. Man meint, dieser Roman sei nicht geschrieben, sondern komponiert - mit einer ganz sanften, fast stillen Tonfolge.
In einem noblen Schlosshotel im Alpenvorland (mit feiner Küche und exquisitem Wellnessbereich) lernen sich der Schriftsteller Johannes Kirchner und die Video-Künstlerin Jule Danner kennen. „Wer ist diese Schwimmerin?“, schrieb Johannes auf einen Notizzettel, als er jene Jule sah, die gerade das Tagebuch einer japanischen Hofdame aus dem 11. Jahrhundert künstlerisch arrangieren will.
Sie tauschen Blicke aus, sprechen so gut wie nichts miteinander, trotzdem scheint ein großes Einvernehmen zu bestehen. Lediglich kleine Zettel dienen als kommunikative Hilfsmittel - abgesehen von der Buchhändlerin Katharina, die im Schlosshotel arbeitet und als eine Art Bindeglied fungiert. Sie war zuvor schon mit Johannes befreundet und einst mit Jules Vater liiert.
Ortheil beschreibt auf wunderbare Weise das wortlose Annähern, eine vor allem auch geistige Beziehung, so etwas wie die passende Chemie zwischen zwei Menschen. Es ist eine beinahe stumme Liebe, aber dieser wortlose Einklang ist vermutlich der erstrebenswerteste Zustand einer Beziehung. Und zwischen Jule und Johannes funktioniert dieses „blinde Verständnis“ während des Hotel-Aufenthalts - egal, ob es um Wanderwege oder um die Speisekarte geht.
„Sie wollen einander kennenlernen, indem sie ausschließlich schauen, sehen, wortlos bleiben“, befand Ortheil selbst über das leicht unkonventionelle Paar seines Romans. Es wirkt zart und beinahe schüchtern, wie sie die kleinen Zettel mit kurzen Nachrichten austauschen - vielleicht auch dies noch einmal ein Querverweis auf die stumme Kindheitsphase des Autors. Die meisterlich arrangierte Magie der non-verbalen Kommunikation wird durch literarische, musikalische und reichlich kulinarische Exkurse gewürzt - eine absolut ortheil-typische Begleitmusik.
Mit „Liebesnähe“ hat Hanns-Josef Ortheil, der am Samstag seinen 60. Geburtstag feiert, nach „Die große Liebe“ (2003), und „Das Verlangen nach Liebe“ (2007) seine große Liebesroman-Trilogie abgeschlossen und ein flammendes Plädoyer für die Erotik der Stille vorgelegt. Der schönste, fantasievollste und emotionalste Liebesroman der letzten zehn Jahre.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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