Buchtipp der Woche: Prachtband zum Geburtstag
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Urs Widmer gehört zu den wenigen zeitgenössischen Schriftstellern, für die Humor und Tiefsinn keinen unüberbrückbaren Gegensatz darstellen. Einen repräsentativen Querschnitt aus Widmers künstlerischem Schaffen hat der Diogenes Verlag nun mit einem opulenten, hochwertig ausgestatteten Band vorgelegt, der 32 Erzählungen enthält – angefangen mit Widmers Debütwerk „Alois“ (1968) bis hin zu „Reise nach Istanbul“ (2010).
„Ich lebe seit 1968 von dem, was ich schreibe. Das muss mir zunächst einmal einer nachmachen, das ist realistisches Schreiben. Am Anfang hatten wir null Geld. Aber ich kann mich an keine Sekunde des Leidens, an keine Armut erinnern“, erklärte Widmer, der am Dienstag seinen 75. Geburtstag feiert. Als er 1968 mit seiner Erzählung „Alois“ debütierte, hatte er gerade sein Studium mit der Promotion abgeschlossen und arbeitete als Verlagslektor bei Suhrkamp.
Urs Widmer, der sich ausgiebig mit Nabokov und Joseph Conrad beschäftigt hat, beherrscht die gesamte Bandbreite der literarischen Genres und betreibt ein amüsantes Verwirrspiel mit den künstlerischen Formen. In den Erzählwerken „Der blaue Siphon“ (1992) „Liebesbrief für Mary“ (1993), und „Im Kongo“ (1996/alle auch bei Diogenes erschienen) dominiert eine eigenwillige Mischung aus surrealistischen Sequenzen und knallhartem Realismus. Mit den wechselnden Schauplätzen (Australien, Zürich, Kongo) changiert auch Widmers Erzählduktus. Je exotischer das beschriebene Ambiente, umso farbenfroher, ausdrucksstärker und vitaler wird die Sprache, die in einigen Passagen beinahe expressionistische Sphären tangiert.
Harlekin und Prophet
Trotz seiner formalen Verspieltheit ist Widmer, der sich auch erfolgreich als literarischer Übersetzer betätigte, niemals ein Elfenbeinturm-Poet gewesen. Sein erfolgreichstes Theaterstück „Top Dogs“, für das er 1997 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, ist das Ergebnis einer intensiven Recherche in Managementkreisen. In nur drei Monaten hat Widmer dieses Stück, das auf über 40 Bühnen gespielt wurde (und noch gespielt wird), in Zusammenarbeit mit dem damaligen Züricher Theaterintendanten Volker Hesse fertig gestellt. „Top Dogs ist zu keiner Sekunde langweilig“, urteilte der renommierte Regisseur und Intendant Volker Canaris.
Ob in dem skurrilen Geschichtenband „Vor uns die Sintflut“ (1998), im weniger geglückten Theaterstück „Bankgeheimnisse“ (2001 in Zürich uraufgeführt), im Essayband „Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück“ oder in seinen diversen Zeitungskolumnen: Urs Widmer ist immer ein präziser Beobachter des Alltags, ein feinsinniger Analytiker, der vehement gegen das „Paradies des Vergessens“ (so hieß eine 1990 erschienene Erzählung, die im neuen Sammelband ebenfalls enthalten ist) anschreibt.
Auch in seinem letzten Roman „Herr Adamson“ (2009) treibt Widmer, der tiefsinnige Schelm unter den zeitgenössischen Autoren, wieder allerlei fantastischen Schabernack. Ein Greis erinnert sich an seinem 94. Geburtstag, den er am 20. Mai 2032 feiert (es wäre dies auch Widmers 94. Geburtstag), an eine Begegnung aus Kindheitstagen. Der alte Mann mit Schnauzbart und zotteligen Strähnen um den Glatzkopf herum ähnelt (wohl nicht zufällig) Widmers eigenem äußeren Erscheinungsbild. „Mein Lachen ist zur einen Hälfte Utopie und zur anderen Hälfte der verzweifelte Versuch, die Schrecken auszuhalten“, hatte der Autor einmal in einem Interview erklärt.
„Kann man denn nicht lachend auch sehr ernsthaft sein?“, heißt es in Lessings „Minna von Barnhelm“. Urs Widmer - mal spottender Harlekin, mal weiser Prophet, hat dies eindrucksvoll geschafft.
Urs Widmer: Gesammelte Erzählungen. Diogenes Verlag, Zürich 2013, 759 Seiten, 29,90 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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