BUCHTIPP DER WOCHE: Mit den Wildenten fliegen

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag. Köln 2011, 183 Seiten, 18,99 Euro

Angst vor der Mutter und daraus resultierende Schutzreflexe der Hauptfigur prägen die Atmosphäre in Angelika Klüssendorfs Roman „Das Mädchen“, der im letzten Herbst auf der Shortlist des Deutschen Bücherpreises stand.

Im Handlungsmittelpunkt steht ein junges, zu Beginn 12-jähriges Mädchen, das in einer zerrütteten DDR-Familie in den 1970er Jahren aufwächst. Bedrückend ist die Allgegenwart der Gewalt. Die alleinerziehende Mutter löst Konflikte nicht mit beschwichtigenden Worten, sondern mit knallharten, die Grenze zur Folter tangierenden Methoden.
Die Autorin Angelika Klüssendorf kennt das von ihr beschriebene Milieu aus dem Eff-Eff. 1958 im holsteinischen Ahrensburg geboren, siedelte sie 1961 mit ihren Eltern in die DDR über, absolvierte (wie später auch ihre Protagonistin) eine landwirtschaftliche Ausbildung und lebte bis 1985 in Leipzig.
Gestählt durch die gänzlich freudlose Kindheit im sozialistischen Alltag entwickelt Angelika Klüssendorf hier einen Tonfall, der durch Mark und Bein geht. Alles wird in nüchtern-klarer Sprache geschildert, ohne Distanz, ohne Einschübe - gerade so, als erzähle die Autorin von ganz alltäglichen Dingen.

Gänsehaut-Milieu
Die Hauptfigur und ihr jüngerer Bruder Alex werfen Fäkalien aus dem Wohnungsfenster, die Kinder werden tagelang eingesperrt. Ein wahrhaftiges Gänsehaut-Milieu! „Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.“
In ihrem „Gefängnis“ im Keller findet die Protagonistin ein wenig Trost bei der Lektüre von „Brehms Tierleben“ und Dumas‘ „Graf von Monte Christo“.
Die Einweisung in eines der Spezialkinderheime für Schwererziehbare kommt zunächst einer Erlösung gleich, doch nach der Trennung von der barbarischen Familie wird es nicht wirklich besser. Die Drangsalierungen halten im Heim an und erhalten sogar noch eine zusätzliche Qualität - neben der lieblos-brutalen Umgangsatmosphäre gibt es auch noch den plumpen erzieherischen Auftrag, die gestrandeten Kinder doch noch zu aufrechten Sozialisten machen zu wollen.
Das Leben des Mädchens wird ein einziger Überlebenskampf, mit prägenden biografischen Marksteinen: der erste BH, die Jugendweihe, die erste schüchterne Schwärmerei.
Angelika Klüssendorf erzählt ihre bedrückende Chronik einer Kindheit in der DDR-Unterschicht bevorzugt im Präsens und evoziert dadurch eine gerade zu beklemmende Nähe. Im Mittelpunkt steht die Selbstbehauptung des Mädchens, das sich mit viel Fantasie Brücken baut und nie die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat. Am Ende liegt das Mädchen im Gras und will mit den Wildenten davon fliegen. Wie hieß es in Juliane Werdings 1970er Jahre Ohrwurm „Am Tag als Conny Kramer starb“ so treffend: „Wir lagen träumend im Gras, die Köpfe voll verrückter Ideen...“

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.