BUCHTIPP DER WOCHE: Mein Leben ist zerbrochen

Joyce Carol Oates: Meine Zeit der Trauer. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 494 Seiten. 24,95 Euro

„Mein Mann ist gestorben, mein Leben ist zerbrochen.“ Dieser, dem Buch vorangestellte, ebenso einfache wie treffende Satz charakterisiert Joyce Carol Oates‘ gesamtes opulentes Erinnerungsbuch vorzüglich.

47 Jahre war die amerikanische Schriftstellerin mit ihrem Ehemann Raymond Smith verheiratet, als er völlig überraschend am 8. Februar 2008 gestorben ist. Die Autorin selbst hatte ihn in das Princeton Medical Center gefahren, die erste Diagnose lautete: Lungenentzündung. Das Paar war davon ausgegangen, dass Raymond nur wenige Tage in der Klinik verbleiben müsste. Und dann der grausame Schock: Joyce Carol Oates‘ Ehemann war knapp eine Woche nach seiner Einlieferung an einer im Krankenhaus erlittenen Infektion gestorben. Als die Autorin alarmiert wurde und in die Klinik eilte, war ihr Mann bereits 20 Minuten tot.
Den Großteil der ersten, endlosen Nacht verbrachte sie damit, Möbel abzustauben und mit Zitronenpolitur zu bearbeiten. Joyce Carol Oates beschreibt in diesem Buch eine authentisch anmutende Gratwanderung zwischen Trauer und Ablenkung, zwischen unendlicher Leere, tiefer Niedergeschlagenheit, auf den ersten Blick irrationalem Handeln und vorsichtigen Versuchen, das Leben wieder mit Sinn zu füllen.
Direkt nach Raymonds Tod trennte sie sich von Unmengen ihrer Kleidung, während sie seine Wäsche penibel sortiert im Schrank aufbewahrte, ständig stieß sie sich (kaum nachvollziehbar) den Kopf, wenn sie aus dem Auto ausstieg; und sie beließ eine Nachricht ihres Mannes über Monate auf dem Anrufbeantworter, rief selbst von unterwegs an, um die Stimme des so schmerzlich vermissten Ehemannes noch einmal zu hören.
Neben den tiefgehenden seelischen Erschütterungen litt die Autorin in den ersten Monaten nach Raymonds Tod auch körperlich - an permanenter Schlaflosigkeit und starkem Gewichtsverlust. Rückblickend erinnert sich Joyce Carol Oates an lange Selbstgespräche und daran, dass sie sich sogar selbst angeschrieen habe. Aus den schlimmen Erfahrungen entwickelte sich ein handfestes Misstrauen gegenüber Ärzten und Krankenhäusern. Im Nachhinein bedauert die 73-jährige Schriftstellerin, dass sie keine Autopsie veranlasst habe.
Unendlich viel hat Joyce Carol Oates schon geschrieben. Inzwischen sind es rund 60 (publizierte) Romane, über 100 Kurzgeschichten, dazu zahllose Essays, Theaterstücke, Drehbücher, Kritiken und wissenschaftliche Aufsätze. Aber noch nie hat sich diese verdienstvolle Autorin so sehr geöffnet und den Leser so intensiv an den eigenen Emotionen partizipieren lassen. Am Ende schimmert sogar wieder Licht am Ende des düsteren Lebenstunnels, denn auf der vorletzten Seite beschreibt Oates, wie sie auf einer Geburtstagsparty einen Neurowissenschaftler kennen gelernt hat. Mit jenem Charles Gross ist die Autorin seit März 2009 verheiratet. Joyce Carol Oates‘ beeindruckendes Trauerbuch endet also durchaus versöhnlich.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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