Buchtipp der Woche: Liebevolle Heimatkunde

Frank Goosen: Sommerfest. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2012, 317 Seiten, 19,99 Euro.

Frank Goosen kennt eigentlich nur ein Romanthema, das er facettenreich zu variieren versteht: eine Jugend im Ruhrgebiet der 1970er Jahre. Das Heranwachsen zwischen Kleingartenanlagen, Zechenhäusern, Eckkneipen, Industriebrachen und Fußballplätzen aus grobkörniger roter Asche ist ein Stück seiner eigenen Biografie, ein intimer Blick in den schmalen Bochumer Kosmos zwischen Bergbaumuseum und Sternwarte.

Der 45-jährige Autor, der es einst mit seinem langjährigen Partner Jochen Malmsheimer als kabarettistisches Tresenleser-Duo im Ruhrgebiet zu respektabler Populariät gebracht hatte, fand erst relativ spät zur Literatur, startete aber mit seinem später erfolgreich verfilmten Romandebüt „Liegen lernen“ (2001) sofort richtig durch.
Gute zehn Jahre später schickt Goosen in seinem vierten Roman seine Hauptfigur Stefan Zöllner in einen Zwangsheimaturlaub nach Bochum. Der leidlich erfolgreiche Theaterschauspieler lebt seit geraumer Zeit in München und will sein Elternhaus verkaufen, in dem zuletzt sein kürzlich verstorbener Onkel gelebt hatte. Bei Zöllner (keineswegs zufällig im gleichen Alter wie der Autor) befindet sich das ganze Leben in der Schwebe. Sein Vertrag am Theater wurde nicht verlängert, und seine Beziehung mit Anka steht vor dem Aus („Ich werde nicht mehr da sein, wenn du zurück kommst.“). Im Juli 2010 - an jenem denkwürdigen Wochenende, als die Autobahn 40 im Rahmen einer gigantischen Kulturhauptstadtaktion gesperrt war - kehrt Zöllner also aus Bayern nach Bochum zurück. Ein ökonomischer und emotionaler Wackelkandidat. Das aus dem Hausverkauf winkende Geld kann er gut für den Lebensunterhalt gebrauchen, und die moralische Aufbauarbeit durch seine Jugendliebe Charlotte verschmäht er auch nicht.
In seiner Heimat scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, die Figuren sind kaum gealtert, und Goosen schickt seinen Protagonisten in unzählige Wiedersehenstreffen. „Tante Änne“ betreibt immer noch den Kiosk, der im Ruhrdeutsch „Bude“ genannt wird, „Omma Luise“ ist das letzte Familienmitglied, die zwielichtigen Jugendfreunde Toto Starek und Diggo Decker („ein Arschloch in vierter Generation.“) treiben weiter ihr Unwesen, und all die Abromeits, Mehls und Borchardts setzen bei Zöllner einen kaum zu bremsenden Erinnerungsstrom frei. Die Hauptfigur erlebt den Heimatbesuch wie eine Zeitreise. „Sechs schmale Masten ragen in den Himmel und tragen je zwei starke Scheinwerfer. Kreisligaflutlicht. Stefan erinnert sich an das Gefühl, als er zum ersten Mal unter Flutlicht trainiert hat, als Kind. Fühlte sich an wie Bundesliga, nur auf Asche.“
Der Ruhrpottdialekt, das Revier als eine Art großes Dorf, die zum Fahrradweg umfunktionierte Erzbahntrasse: Frank Goosen schwankt zwischen realistischer Darstellung und Komik, neigt bisweilen auch zur Überpointierung mancher Marotten, ohne dabei aber seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Hier wird „Heimatkunde“ liebevoll inszeniert. „Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.“ Dieses Glücksgefühl des Dazugehörens, das wonnevolle Eintauchen in eine wohl bekannte Sphäre rückt den eigentlichen Anlass seines Heimaturlaubes in den Hintergrund. Der Maklertermin wird wegen des Sommerfestes des Fußballvereins aus Zöllners Terminplan gestrichen.
Außerhalb des Ruhrgebiets wird auch der neue Roman wieder auf die für Goosen-Bücher schon typischen Vorbehalte stoßen: seinen übergroßen Drang zur Idyllisierung des Ruhrgebiets und der stark umgangssprachlich gefärbte Tonfall in den Erzählpassagen. Manchmal drückt dieses Stilmittel Authentizität aus, in Überdosen serviert kann es aber auch „nerven“. Frank Goosen ist kein literarischer Virtuose (das ist auch gar nicht sein Anspruch), dafür aber ein äußerst subtiler Beobachter, der das Motto seiner Omma Luise („die besten Storys liegen auf der Straße.“) seit Jahren erfolgreich praktiziert. Ob Goosen seine Heimatstadt Bochum wirklich so sehr liebt wie sein Protagonist Zöllner? Keine Frage, denn wer lässt sich sonst (wie Goosen) freiwillig in den Aufsichtsrat des VfL Bochum wählen. Innige Liebe und großes Leid liegen nicht nur in der Literatur oft ganz dicht beieinander.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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