BUCHTIPP DER WOCHE: Laiendarsteller in unspielbarem Stück

Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2011, 159 Seiten, 17,90 Seiten

Wilhelm Genazino ist eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literatur. Rund zwanzig Jahre lang wurden seine leicht skurrilen Bücher zwar von der Kritik verhalten gelobt, doch die meisten Titel verkauften sich sehr zäh und landeten auf dem „Wühltisch“.

Als Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ eine wahre Lobeshymne auf Genazino anstimmte, änderte sich die öffentliche Wahrnehmung schlagartig, und 2004 erhielt er durch den Georg-Büchner-Preis den literarischen Ritterschlag.
Dabei schreibt der heute 68-jährige Autor schon seit seiner Ende der 70er Jahre erschienenen Trilogie um den spießigen Angestellten Abschaffel auf höchstem literarischen Niveau, und stets standen kauzige, eigenbrötlerische Verlierer im Mittelpunkt der Handlung: selbstverliebte, zumeist bindungsunfähige Melancholiker, introvertierte Tagträumer, die sich eine mittelmäßige Nischenexistenz eingerichtet haben.
Die Figuren wirken wie eineiige Zwillinge, ganz egal, ob es sich um einen Controller im Pharmakonzern, um einen in einer Wäscherei gestrandeten Philosophen oder wie im nun erschienenen Roman um einen freien Architekten handelt.
Der namenlose geschiedene Ich-Erzähler ist Anfang vierzig, zurückhaltend, bescheiden, aber auch etwas seltsam: „Ich suchte eine Frau, deren Anwesenheit ich ohne Fluchtgedanken ruhig ertrug.“ Maria - eine Art Lebensgefährtin, die aber ihre eigene Wohnung behielt - scheint diesem Anforderungsprofil nicht in Gänze zu entsprechen. Von der häufig dem Alkohol frönenden Frau fühlt sich die Hauptfigur immer wieder unter Druck gesetzt. Als „Liebesgenügsamkeit“ bezeichnet er sein eigenes emotionales Befinden.
Nach dem plötzlichen Tod seines gleichaltrigen Kollegen Autz, mit dem die Handlung eingeleitet wird, fühlt sich der Architekt hin- und hergerissen zwischen Maria und Autz‘ Witwe Karin, um die er sich zwischenzeitlich rührend kümmert. Genazinos Protagonist nimmt in doppelter Hinsicht Autz‘ Platz ein - privat an Karins Seite und beruflich als festangestellter Architekt im erfolgreichen Büro Erlenbach.
Aber immer wieder quälen ihn tiefe Zweifel am eigenen Handeln: er pendelt gedanklich zwischen seiner Freiheit als Selbständiger und handfest ausgemalten existenziellen Zukunftsängsten, er will seiner Ex-Frau Thea eine kapitale Summe für eine Zahnbehandlung leihen und möchte dann aber umgehend seine Zusage wieder rückgängig machen. Nur die eigene Unentschlossenheit ist eine Konstante.
„Das Kulturgut Humor hat sich im Laufe der Jahre in eine Art Ironie verwandelt. Ohne Ironie könnte ich nicht schreiben und wahrscheinlich auch nicht leben“, hatte Genazino einmal in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk erklärt. Fraglos arbeitet der Büchner-Preisträger nicht nur mit einer gehörigen Portion Ironie, sondern auch mit einer geradezu dramatischen Überpointierung seiner Figuren. Wilhelm Genazino ist dadurch atmosphärisch noch viel näher am verpönten, spießigen „Mittelstand“ (besser: Mittelmaß) als Martin Walser, der oft als dessen „Chronist“ bezeichnet wurde. Genazino bringt uns all diese Mittelmäßigen so nah, weil er ihre Schrulligkeiten bis an die Grenze des Absurden ausreizt, uns immer wieder Einblicke in deren aufgewühltes Seelenleben gewährt und uns so an den psychischen Deformationen teilhaben lässt: „Die Verschiebung des Authentischen zog sich als deutliche Spur durch mein Leben.“
Wie die meisten seiner „Vorgänger“ aus Genazinos Feder tummelt sich auch der Architekt auffallend emotionslos durch den Alltag, gerade so, als bewege er sich in einem Leben aus „zweiter Hand“, als stiller Beobachter seiner selbst: „Wieder hatte ich das quälende Gefühl, wir seien Laiendarsteller und spielten ein unspielbares Stück.“
Der „normale“ Alltag als nicht zu bändigender Dramen-Stoff, und ein trauriger Held, der im letzten erzählerischen Akt im Gefängnis landet - das ist die neueste Variante von Genazinos anspielungsreichem „Theater“ über die großen und kleinen Katastrophen des sozialen Mittelstandes. Eigentlich stets der gleiche Stoff, doch immer wieder aufs Neue faszinierend zu lesen.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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