BUCHTIPP DER WOCHE: Erleuchtung in Sizilien

„Ich möchte keineswegs als Privatmensch, sondern ausschließlich als Forscher betrachtet und auch behandelt werden“, bekundet Benjamin Merz, die leicht kauzige Hauptfigur in Hanns-Josef Ortheils neuem Roman. Der Protagonist ist ein wortkarger Ethnologe von Ende Dreißig, der sich aus Forschungszwecken nach Sizilien aufmacht und dort am Ende sogar sein privates Glück findet.

Doch bis dahin ist es ein leidvoller und von Ortheil kurvenreich ausstaffierter Weg. Der 61-jährige Autor, der seit einigen Jahren als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim tätig ist und zuletzt mit „Liebesnähe“ (2011) seine Liebesroman-Trilogie abgeschlossen hatte, nimmt einen autobiografisch grundierten thematischen Faden aus „Die Erfindung des Lebens“ (2009) – leicht variiert – wieder auf: das schweigende Kind.
Der Autor selbst begannt erst mit sieben Jahren zu sprechen, hatte sich in ein solidarisches Schweigen mit seiner Mutter begeben, die über den Verlust von vier Kindern verstummt war. Seine Benjamin-Figur hingegen ist im Kreis von vier älteren Brüdern aufgewachsen und hatte sich nach deren permanenten Drangsalierungen in sich selbst zurückgezogen. Die Abhängigkeit von den Geschwistern besteht auch in der Erzählgegenwart noch. Da sich der allein lebende Benjamin als Privatdozent finanziell nur leidlich über Wasser halten kann, ist er auf Zuwendungen seiner Brüder angewiesen und wohnt im Dachgeschoss des elterlichen Hauses am Kölner Erzbergerplatz, in dessen Dunstkreis Ortheil selbst aufgewachsen ist.
Im Laufe der Jahre hat Benjamin gelernt, zuzuhören, sich so etwas wie die Diskretion des stillen Beobachters angeeignet. Der sprachfaule, stark introvertierte Ethnologe begibt sich schließlich nach Sizilien, wo er die Lebensgewohnheiten der Bewohner der fiktiven Kleinstadt Mandlica an der Südküste erforschen und beschreiben will. Hier vollzieht sich eine wundersame Wandlung bei der Hauptfigur, das Wort dolce vita gewinnt doppelte Bedeutung, denn das Städtchen gilt als Wiege hochgerühmter sizilianischer Süßspeisen. Und Benjamin erlebt auf eine ganz spezielle Art sein subjektives dolce vita durch die Begegnung mit den aus Bayern stammenden Schwestern Maria und Paula, die die Pension betreiben, in der er logiert.
Maria ist eine extrovertierte Powerfrau, ein temperamentvolles Energiebündel, während die als Übersetzerin arbeitende Schwester Paula ein eher schweigsamer Mensch ist. Maria wird für Benjamin eine Art Verbündete, Paula aber fasziniert ihn, und sie ist die erste Person, der er sich schonungslos öffnet und mit der er sich später auch verlobt. Das vorsichtig-schüchterne Sichnäherkommen durch einen verständnisvollen Dialog wird ihr mit großer Meisterschaft zelebriert. Ortheils männliche Hauptfigur hat immer ein wenig Angst vor dem Versagen. Als jüngster im Bunde der Familie nicht anders als im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Immer ist bei ihm ein wenig emotionales Understatement im Spiel, ein zwischenmenschlicher Sicherheitsabstand als Schutzreflex.
Hanns-Josef Ortheil, der zu den versiertesten und produktivsten Autoren der Generation der Nachkriegsgeborenen zählt und der in den 1990er Jahren mit seiner sprachgewaltigen, im 18. Jahrhundert angesiedelten Künstler- Romantrilogie Kritik und Leserschaft gleichermaßen in den Bann gezogen hat, ist ganz nah bei seiner Hauptfigur Benjamin Merz. Er evoziert eine Stimmung intensivster Teilhabe, ohne dabei um Mitleid zu buhlen.
Und das winkende kleine Glück, das gönnt man am Ende dieser traurig-komischen Figur ganz aufrichtig. Merz bleibt am Ende in Sizilien. Nichts gegen Köln-Nippes und den dortigen Erzbergerplatz, aber wer würde nicht auf der Stelle auch Sizilien vorziehen?

Hanns-Josef Ortheil: Das Kind, das nicht fragte. Roman. Luchterhand Verlag, München 2012, 428 Seiten, 21,99 Euro


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Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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