BUCHTIPP DER WOCHE: Der Erfinder der Liebesblödigkeit

„Ich weiß heute nicht mehr genau, warum ich, trotz meiner Intimkenntnisse, keinen Arbeiterroman schreiben wollte. Vermutlich war es nur das Verlangen nach Originalität“, befindet der Schriftsteller Wilhelm Genazino durchaus selbstkritisch in seinem neuen Band „Tarzan am Main“. Am Dienstag feierte der Georg-Büchner-Preisträger seinen 70. Geburtstag.

Wilhelm Genazino passt eigentlich überhaupt nicht in den immer schnelllebigeren Literaturbetrieb - als zurückhaltender, den leisen Tönen zugewandter Zeitgenosse ebenso wenig wie seine unkonventionellen, allen literarischen Moden zuwider laufenden fragilen Romane.
„Ich weiß selber keinen richtigen Grund dafür, warum ich jetzt auf einmal Erfolg habe“, bekannte Wilhelm Genazino in einem Interview im Sommer 2004. Er schreibt seit gut dreißig Jahren konstant auf hohem Niveau, erntete stets anerkennende Kritiken, doch bis vor wenigen Jahren wurden die Restauflagen seiner Bücher nicht selten auf den Wühltischen verramscht. Dieses finanzielle Risiko wollte der Rowohlt Verlag, der 20 Jahre lang Genazinos Bücher publizierte, nicht länger tragen und ließ den Autor zum Carl Hanser Verlag ziehen.
„Man kann alles Mögliche vermuten, etwa, dass das Fernsehen dafür verantwortlich ist“, liegt Genazino mit seinem Erklärungsversuch für den plötzlichen Erfolg wohl nicht falsch. 2001 hatte das „Literarische Quartett“ im ZDF seinen Roman „Ein Regenschirm für einen Tag“ hoch gelobt, und danach ging es mit der öffentlichen Anerkennung und den Verkaufszahlen steil bergauf. 2003 erhielt er den Berliner Fontane-Preis, ein Jahr später die wichtigste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, den Georg-Büchner-Preis, 2007 folgte noch der Kleist-Preis.
„Es ist wie ein konventioneller, langsamer bürgerlicher Aufstieg“, erklärt der am 22. Januar 1943 in Mannheim geborene Autor die wundersame Wandlung. Nach dem Abitur und einem Volontariat bei der Rhein-Neckar-Zeitung studierte Genazino Germanistik, Philosophie und Soziologie in Frankfurt, war einige Jahre als Redakteur für die Satirezeitschrift „Pardon“ tätig, ehe er sich ganz der Literatur widmete und zunächst als Hörspielautor reüssierte.
Seine Geburtsstadt Mannheim mit ihren beinahe geometrisch angelegten Innenstadtstraßen, die statt Namen Nummern tragen, hat ihn nachhaltig geprägt, den Blick auf das bisweilen trostlose Leben in den Stadtzentren geschärft. Auch in seinem neuen Band „Tarzan am Main“ widmet er sich den Metropolen und deren Eigenheiten und hält dabei ein flammendes Plädoyer für seinen Wohnort Frankfurt und gegen die „architektonische Monokultur“ von Zürich, Salzburg und Straßburg, „in deren Massenkompatibiliät ich nicht leben möchte.“
Flaneure mit besonders gut geschultem Auge sind häufig die Protagonisten in Genazinos stillen, aber sprachlich ausgefeilten Werken mit ihrem charakteristischen Hang zur leichten Melancholie. Von seiner Ende der 70er Jahre erschienenen Trilogie um den spießigen und untertänigen Angestellten Abschaffel bis hin zum 2011 erschienenen Roman „Wenn wir Tiere wären“ stehen kauzige Figuren im Mittelpunkt, liebenswerte Verlierer, deren Lebensträume wie Seifenblasen zerplatzten und die sich dennoch mit ihren öden Verhältnissen arrangierten.
Genazino, der selbst als Journalist und Hörfunkautor viele Jahre ums materielle Überleben kämpfen musste, hat bei seinen erzählerischen Spagaten zwischen Schmerz, Ironie und Melacholie allerdings nie seine „Looser“-Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben. „Man muss sich erst einmal ohnmächtig fühlen, ehe man komisch wirken kann. Man muss in der vollkommenen Totenstarre der Probleme gelebt haben, ehe man über sie lachen kann“, hat Genazino selbst einmal die Lebensverhältnisse seines Romanpersonals beschrieben.
Immer wieder blitzt zwischen den Zeilen auch der unterschätzte Humorist Genazino auf, dem wir auch die herrlich-komische Wortschöpfung „Liebesblödigkeit“ (so der Romantitel aus dem Jahr 2005) zu verdanken haben. In eben diesem ominösen Zustand befinden sich fast alle Genazino-Figuren - so auch der von seiner Ehefrau verlassene Dieter Rotmund im Roman „Mittelmäßiges Heimweh.“ Auf eine Frage nach seinem Wohlbefinden antwortet er: „Ich vereinsame gerade.“ Nur drei simple Worte, doch präziser kann man die Atmosphäre in den Genazino-Büchern kaum beschreiben.
Der „normale“ Alltag als nicht zu bändigender Dramen-Stoff, und ein trauriger Held, der im letzten erzählerischen Akt im Gefängnis landet - das war die bisher letzte Variante (im Roman „Wenn wir Tiere wären“, 2011) von Genazinos anspielungsreichem Erzähl-“Theater“ über die großen und kleinen Katastrophen des sozialen Mittelstandes. Eigentlich stets der gleiche Stoff, doch immer wieder aufs Neue faszinierend zu lesen.

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Carl Hanser Verlag, München 2013. 139 Seiten. 16,90 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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