BUCHTIPP DER WOCHE: Das Leben als Hobby
Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 319 Seiten, 24,90 Euro
„Er riss seine Stunden herunter, er arbeitete mit uralten, vor Jahren erstellten Manuskripten, er lebte von der Wiederholung und scheute sich auch nicht, wie ein Stadttheaterbuffo die erfolgreichsten Stücke seines Repertoires immer wieder anzusetzen.“ So charakterisiert Christoph Hein den monotonen Arbeitsalltag seines Protagonisten Rüdiger Stolzenburg, der an der Leipziger Universität als Dozent für Kulturwissenschaften lehrt.
Ein desillusionierter Universitätslehrer von 59 Jahren, der über viele Jahre mit der Aussicht auf eine Verbeamtung auf einer halben Stelle hingehalten wurde.
Christoph Hein, der erste Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs, zu DDR-Zeiten schon im Westen ein angesehener, weil kritischer Schriftsteller und Autor der herausragenden Romane „Der Tangospieler“ (1989) und „Willenbrock“ (2000) mutet seiner Hauptfigur diesmal einiges zu. Zur beruflichen Frustration gesellen sich handfeste finanzielle Probleme durch eine Steuernachzahlung, körperliche Angriffe durch eine Mädchengang und das sich abzeichnende Zerplatzen seines Lebenstraums. Stolzenburg hatte sich vorgenommen, die Schriften des Mozart-Librettisten Friedrich Wilhelm Weiskern (1711-1768) in einer Gesamtausgabe zu versammeln. „Gehen Sie mal in die Möbelhäuser, da werden Bücherregale gar nicht mehr angeboten. Tempi passati“, erklärt ihm ein Verleger bezüglich seines Projekts.
Das Leben als Hobby
Dieser gebildete, etwas altmodisch daherkommende Geisteswissenschaftler Stolzenburg („Wir betreiben unser Leben eben als Hobby.“), der über ein geringeres Einkommen verfügt als viele seiner Studenten und dessen Selbstwertgefühl gegen Null tendiert, plagt sich auch noch mit einer handfesten Midlife Crisis herum. Stolzenburg, der ein ausgeprägtes Faible für junge Studentinnen hat, fürchtet sich gleichermaßen vor dem Nachlassen seiner Attraktivität wie vor dem drohenden abrupten Ende seiner Beziehung zur gleichaltrigen Henriette, der Pressesprecherin des Leipziger Rathauses.
Zwischendurch stellt der inzwischen 67-jährige Christoph Hein seinem Protagonisten auch noch hohe moralische Hürden in den Weg. Ein nur mäßig begabter, aber steinreicher Student namens Hollert bietet Stolzenburg für einen gut benoteten Seminarschein eine unverschämt hohe Summe an, und eine junge Studentin offeriert ihren Körper als entsprechende Bezahlung für ein ähnliches Ansinnen.
Christoph Hein malt ein tiefschwarzes Bild vom universitären Alltag. Egoismus, Korruption und Rücksichtslosigkeit prägen die Campus-Szenerie. „Ich kenne Dozenten, die davon ausgehen, dass 80 Prozent der Hausarbeiten zusammenkopiert sind“, erklärte Hein kürzlich in einem Interview mit dem Wiener „Standard“.
Der Philologe Stolzenburg erinnert ganz stark an die vielen tristen Figuren aus Martin Walsers Romanen, an die gebildeten, desillusionierten Mittelständler, die wie paradigmatische Verlierer wirken, in Lethargie versinken und sich ihrem Schicksal ohne jede Gegenwehr ergeben. Gegenüber den Vorgängerromanen „Landnahme“ (2004) und „Frau Paula Trousseau“ (2007) hat Christoph Hein diesmal eine deutlich passivere Hauptfigur in den Mittelpunkt gestellt und seinem Roman überdies einen durchgängig bitteren Grundtenor verliehen.
Bernhard Haber hat sich in „Landnahme“ allen Widrigkeiten zum Trotz selbstbewusst durchs Leben gekämpft, und die Künstlerin Paula Trousseau erhielt durch ihren Freitod sogar märtyrerhafte Züge. Stolzenburg leidet nicht weniger als diese Vorgängerfiguren, doch er wirkt in seinem gesamten Habitus wie ein staunender Zuschauer, der sein eigenes Leben beobachtet.
„Weiskerns Nachlass“ ist ein tieftrauriger Roman voller Bitternis und Resignation, ein melancholischer Abgesang auf die tradierten moralischen Werte.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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