BUCHTIPP DER WOCHE: Besser eine Krankheit als eine Meinung
Helga Schütz, die am 2. Oktober ihren 75. Geburtstag feierte, ist eine der wenigen Autorinnen aus dem Osten Deutschlands, die vor der Wende in der DDR wie in der Bundesrepublik gleichermaßen geschätzt wurde. Seit ihrem Roman "In Annas Namen" (1987) hat sich die in Potsdam lebende Schriftstellerin und Drehbuchautorin immer wieder erzählerisch an der eigenen bewegten Vita abgearbeitet.
Die weibliche Protagonistin Eli ist nur unwesentlich jünger als ihre geistige Schöpferin. Alle anderen wichtigen Marksteine der Vita sind identisch: die schlesische Herkunft, die Bombennächte von Dresden, die Gärtnerlehre und schließlich zuletzt das Studium an der Filmhochschule Potsdam. Eli, die eigentlich Rafaela Reich heißt, genießt in Potsdam als doppelte Quotenstudentin (Arbeiterkind und junge Frau) einen fragwürdigen Sonderstatus. Durch ihren Zulassungsbescheid wird sie gar von "schöpferischen Aufgaben befreit".
Den Mauerbau im August 1961 erleben die Studenten aus allernächster Nähe mit. Der "Campus" befindet sich direkt an der Grenze zu West-Berlin, und der Stacheldraht wird quasi vor den Hörsaalfenstern ausgerollt. Elis Freund, der Kommilitone Ludwig, setzt sich nach West-Berlin ab; die Freundin Erika verweilt wegen der ungewissen politischen Entwicklung in Rom, und der Eli vertraute Dozent Schubert setzt sich nach Österreich ab.
Die junge Frau ist die Zurückgebliebene, die Alleingelassene, die sich zwischen ihren Sehnsüchten und der eigenen Feigheit beinahe selbst zerreibt. Da wirkt es schon ziemlich mutig und ein wenig abenteuerlich, als sich Eli auf eine illegale Reise nach Polen begibt - mit der Asche des Großvaters im Gepäck, die sie der schlesischen Heimaterde "anvertrauen" will. Das liest sich bisweilen ein wenig angestaubt, wie aus einer weit entfernten Epoche. Insofern ist der Romantitel durchaus sinnstiftend, denn Sepia nennt man die bräunliche Eintrübung alter Fotografien
Zu den wenigen Privilegien im tristen Alltag der Hauptfigur gehört der Besuch eines "Zirkels", der sich (aus wissenschaftlichem Interesse versteht sich!!) der Filme von Fellini, Truffaut und Bunuel widmet. Helga Schütz, die bis 2002 als Professorin an der Filmhochschule Potsdam tätig war, hat diesen Roman wie einen spannenden Film angelegt: viele Szenen, lebendige Dialoge, manchmal aber auch harte, beim Erzählen eher ungewohnt abrupte "Schnitte".
Auf einer eingeschobenen zweiten, weitaus abstrakteren Erzählebene setzt sich Helga Schütz mit der Geschichte der Laokoon-Gruppe (eine antike Büste, deren Herkunft 200 Jahre vor Chr. angesiedelt wird) auseinander. Sie ist Gegenstand einer Seminararbeit der Protagonistin. Und so plötzlich wie sich die politischen Verhältnisse um Eli herum geändert haben, bekommt auch die Laokoon-Interpretation eine neue Facette. 1960 sorgt der Fund eines Armes und die nachträgliche Rekonstruktion des Originals international für Furore. Jahrhunderte hinweg wurde ein Kunstwerk offensichtlich falsch interpretiert. Nichts hat mehr Bestand, und die Protagonistin fühlt sich allenthalben "zwischen den Stühlen"
Dass man mit Eli nicht recht warm wird, liegt vermutlich an ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie agiert nicht selbst, sie lässt alles geschehen. "Besser eine Krankheit als eine Meinung", befindet sie über sich. Durch diese nicht nur völlig unpolitische, sondern beinahe lethargische "Es-wird-schon-werden-Mentalität" verleiht Helga Schütz' ihrem Roman aber auch einen leisen, geradezu bedächtigen Tonfall, der sich wohltuend vom kraftmeiernden Sprachgepolter vieler politisch räsonierender literarischer Rückblicke auf die beschriebene Zeit abhebt. Man wird die Hauptfigur Rafaela Reich deswegen nicht lieben lernen, aber manchmal steckt in den zaudernden Anti-Helden mehr historische Authentizität als man auf den ersten Blick vermutet. Genau für diese Figur hat Helga Schütz in "Sepia" die adäquate Sprachmelodie gefunden: nüchtern, etwas spröde, aber frei von jedem Pathos.
Helga Schütz: Sepia. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2012, 391 Seiten, 22,99 Euro
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Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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