BUCHTIPP DER WOCHE: Alles ist ein Vergeich
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Roman. S. Fischer Verlag, 399 Seiten, 19,95 Euro
„Wahrscheinlich lebte sie gar nicht. Sie tat nur so. Es war das Autofahren, das existierte. Sie war der Schatten davon.“
So beschreibt die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz die Hauptfigur ihres neuen Romans. Jene bemitleidenswerte junge Frau heißt Amalie (Amy) Schreiber, ist Mitte zwanzig und absolviert eine Ausbildung in einer privaten Sicherheitsfirma.
Amy stammt aus einem zerrütteten Elternhaus, wuchs in einer Pflegefamilie auf und hat ihren Job offensichtlich nur durch die Protektion einer steinreichen, äußerst zwielichtigen Verwandten in London bekommen. Die junge Frau flaniert mehr oder weniger orientierungs- und perspektivlos durch Leben, wittert überall Verschwörungen und vermutet hinter jeder nichtigen Geste irgendwelche Gefahren. Zerstreuung findet sie beim flüchtigen Sex und unmäßigen Wodkakonsum.
Zu Beginn der Handlung fährt sie mit ihrem Auto durch eine Winterlandschaft an der deutsch-tschechischen Grenze. Amy trifft in ihrer Firma (eine gefährliche Mischung aus Geheimdienst und Mafia) auf eine hermetische Sphäre, in der Brutalität zum Alltag gehört und systematisches Quälen ein fester Bestandteil der Ausbildung ist. Machtkämpfe und Intrigen toben hinter den Kulissen dieses dubiosen Unternehmens, das mal Allsecura, dann wieder Trisecura heißt und am Ende von Amerikanern übernommen wird.
Welche Rolle spielt dabei Amys undurchsichtige Großtante, und was steckt hinter der von ihr geforderten Unterschrift unter einen Erbschaftsvertrag?
Die 61-jährige Autorin Marlene Streeruwitz (Bild rechts) erzählt diese Geschichte eindimensional aus der Perspektive der jungen, reichlich naiv gezeichneten Auszubildenden. In ihren letzten Romanen „Jessica, 30“ (2004) und „Entfernung“ (2006) standen dagegen gebildete Frauen im Mittelpunkt, die an den Zwängen der Gesellschaft gescheitert sind. Und zuletzt hatte sie in „Kreuzungen“ (2008) sogar einen unendlich reichen, namenlosen Mann mittleren Alters, „der nichts von seiner Herkunft gewusst hatte“ ins Zentrum gerückt. Streeruwitz‘ gewagter kompositorischer Kunstgriff, einzig aus dem Blickwinkel einer relativ einfältigen jungen Frau zu erzählen, geht eindeutig zu Lasten der „Lesbarkeit“. Ihre permanente Antriebslosigkeit wirkt auf die Dauer ziemlich ermüdend.
Amy findet später einen Gefesselten im Schnee, verliert selbst das Bewusstsein, und in ihrer Erinnerung klafft eine beträchtliche Lücke. Auch ihr Liebhaber Gino wird überfallen, ihm werden die Knie zertrümmert, doch er schweigt beharrlich. Amy selbst wird noch Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Vorgesetzten Gregory, erleidet eine Fehlgeburt und findet dann die Leiche ihres Peinigers.
Das klingt alles ziemlich verwegen und abenteuerlich, wie eine unausgegorene Mischung aus Krimi und Soziostudie, in der die dubiosen Praktiken der Sicherheitsfirma mit Nazi-Verbrechen verquickt wurden. Aber Marlene Streeruwitz macht nun einmal keine Kompromisse, sie liebt die rauen, radikalen Töne und auch die gewagten Zuspitzungen. Nichts für zartbesaitete Feingeister.
Keine Kompromisse
Mit den hämmernden, stakkatohaften Kurzsätzen, die wie Pistolenschüsse im Ohr hallen, beschleunigt sie immer wieder das Erzähltempo: „Paranoia. Ging das los. War das möglich.“
Am Ende fühlt man sich als Leser mindestens so verunsichert wie die Protagonistin Amy, die sich nie sicher war, was Realität und was Training war: „Hier war alles ein Vergleich. Alles war, als ob.“ So liest sich auch „Die Schmerzmacherin“ wie ein bizarres Verwirrspiel über die Omnipräsenz der Gewalt im Alltag.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.