BUCHTIPP: Das Glück als Balanceakt

Angela Krauß hat in all ihren Büchern bisher stets mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert. Die 61-jährige Leipziger Autorin, die 1988 mit dem Gewinn des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises den Durchbruch geschafft hatte, ist eine Meisterin der radikalen Verknappung.

Auch in ihrer neuen schmalen Erzählung wimmelt es von vagen Andeutungen. Wir begegnen einer namenlosen Protagonistin, einer altmodischen, leicht larmoyanten Frau mittleren Alters. Sie arbeitet als Grafikerin, früher mit Stift und Pinsel, heute (zu ihrem Leidwesen) mit einem hochkomplizierten PC-Programm. Die Frau erweist sich als subtile Beobachterin, ihrem prüfenden Blick entgeht nichts, was sich im elfenbeinfarbenen Haus zwischen Anwaltskanzlei, Architektenbüro, besessenem Bodybuilder und Erdgeschoss-Wohngemeinschaft abspielt. Ein ausgestorbener Schmetterling hängt wie ein Relikt aus einer lange vergangenen Zeit gerahmt an der Wand. "Ich bin mir selbst unbegreiflich geworden", klagt die Hauptfigur, von der man meint, dass sie den rasenden Fortschrittszug am liebsten per Notbremse stoppen möchte.
Ihr Freund Karel ist aus ganz anderem Holz geschnitzt, hat berufsbedingt als Informatiker auch einen völlig anderen Background und "arbeitet an der Überwindung der Materie durch Information". 13mal hat sich das Paar im letzten Jahr gesehen und 364mal geküsst, wie die Protagonistin zu berichten weiß. Das klingt ziemlich skurril, aber es ist gerade dieses Wechselspiel zwischen humoristischer Leichtigkeit und philosophischer Gedankenschwere, das den Reiz von Angela Krauß' Prosa ausmacht.
Angesichts von Datenüberflutung, Zerfallserscheinungen und zunehmender Digitalisierung des Alltags wirft sich zwischen den Zeilen die Frage auf, ob der Mensch als Individuum auf der Strecke bleibt. Die Protagonistin tritt in einen endlosen Dialog mit dem Rest der Welt. Immer wieder wird von Weltgipfeln berichtet, von Konferenzen über Klimakrise, Überbevölkerung und Hunger. Hier wird auf keinen Handlungsplot hinerzählt, sondern eine lange Wahrnehmungskette in mathematischer Manier addiert; assoziative Gedankenspiele dominieren allenthalben. "Heimlich arbeite ich wie jeder Mensch am Glück. Ein Balanceakt", bekennt die Krauß-Protagonistin.
Ihre Suche nach etwas Wärme und Geborgenheit in einem kalten, total individualisierten Alltag ist das zentrale Sujet dieser kunstvollen Erzählung von Angela Krauß.

Angela Krauß: Im schönsten Fall. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 99 Seiten, 14,90 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.